Sonntag, 18. November 2012

Israelisches Tagebuch 58


Liebe Freunde,

ich habe mir lang überlegt, was ich heute schreiben soll. Anfangen werde ich wieder mit einem großen Dank an Euch alle – die Einladungen fließen ununterbrochen an unsere Mailadressen, sowie die Mutmachungen – und der Satz der sich dabei wiederholt – passt auf Euch auf.

Aber was nun?

Wir sind wieder in Tel Aviv. Gestern standen wir in einem ewigen Stau, da die wichtigste Nord-Süd Axe vom Militär beansprucht wurde, um Truppen und Gerät schnell an den Gaza Streifen bringen zu können. Wir sind an ihnen vorbei gefahren, sie tauchten immer wieder aus der Dunkelheit auf – stille Stahlriesen auf LKWs, ihre Kanonen verhüllt, die kryptischen Schriftzeichen die sie in Einheiten, Herkunft und Ziel einteilen, an ihren Seiten mit grobem weissen Schrift geschmiert . Wie der Stau sich bis nach Tel Aviv zog überkam mich ein mulmiges Gefühl – was würden wir tun wenn dieses blöde Alarm jetzt wieder ertönt? Man fängt plötzlich an, in Distanzen zu denken. Wie lange würden wir bis zu diesem Hauseingang, bis zu dieser Brücke, bis zu dieser Raststätte brauchen?

Zum Glück sind ist es nicht dazu gekommen, die Nacht war ebenfalls ruhig. Da unsere Kindergärtnerin sich damit überfordert sah, ihren regelmäßigen Ablauf zu ändern, sagte sie – "es kann kommen wer will, ich bin da. In den Schutzraum gehe ich aber nicht. Und basta. Und rein statistisch gesehen wird hier sowieso nichts passieren." Nun, ich mag Statistik nicht, vor allem wenn sie sich um die Treffquote von Kindergärten und Raketen dreht. Und so ist Gili zuhause geblieben. Ich musste zur Probe, die 10:30 anfing.

10:30 gab die Oboe das "A" zum einstimmen, 10:31 kam das Luftalarm. Am Anfang haben wir gar nichts gehört, da jeder auf sein Instrument noch ein wenig rumgespielt hat, bis ein Bühnentechniker seinen Kopf in unseren Proberaum steckte uns sagte – ihr solltet vielleicht in den Schutzraum gehen. Wie ich Gili anrief, die sich mit Ori schon im Bombenkeller unter unserem Haus befand – ich war selber im Treppenhaus - haben wir die Explosion gehört. Die Rakete wurde, so haben wir später erfahren, von der Luftabwehr in der Luft zerstört.

Ebenfalls wie bei der zweiten Rakete auf Tel Aviv, vor anderthalb Stunden in etwa. Da waren wir schon alle zuhause, diesmal nahm ich schon Schokokekse mit in den Schutzraum, was bei den Nachbarkindern gut ankam. Ich glaube, für die Eltern nehme ich das nächste Mal Schnaps mit.

Gili ist mit Ori im Badezimmer, und ich schreibe Euch diese Worte. Ich sehe den Schreck in ihren Augen, die Müdigkeit, Ori eine gute Laune vorzuspielen. Ich merke die Spannung in ihren Schultern, ich sehe, wie ihre Hand ihren Bauch weniger streichelt als davor, vielleicht will sie nicht dass unser noch Ungeborenes von diesem Zustand etwas mitbekommt, vielleicht will sie die Schwangerschaft von der Realität, bis die Waffenruhe kommt, beschützen.

Ursprünglich wollte ich Euch von den Reaktionen der Menschen aus der Umgebung berichten –

Von Gilis Mutter, die aus angsvoller Muttersliebe nicht anderes sagen konnte als – "und zieh dich immer schön an, auch im Schutzraum muss man eine gute Figur machen",

Von unserem Dirigenten, der die Heldentat seines Vaters – der während eines Raketenangriffs im Golfkrieg auf der Bühne blieb,und eine zitternde Bach Partita spielte – wiederholen möchte,

Von meiner Freundin in New Jersey, die mir erst jetzt über ihren Schmerz und Leid während des Sturms in den USA berichtet hat, um mir so ihre verzweifelte Teilnahme, ihre mitgespürte Ohnmacht zu zeigen,

Von meiner Nachbarin, die zu alt ist um in den Keller zu rennen – und so fand ich sie heute, oh Gott wie sehr ich mich geschämt habe, in der Dunkelheit des Treppenhauses, vor ihrer Tür, mit einer Decke auf den Schultern, "im Treppenhaus ist man sicher, sagten sie im Radio, in den anderen Kriegen war es sowieso schlimmer, und wie geht es Ori?",

Von der Angst, die wie ein feiner Faden in den Worten meines Bruders der an der Grenze vor Gaza steht, per SMS geschickt, verwoben ist.

Von dem Horror, wenn man von den Toten in Gaza hört. Kinder und Frauen. Familien, die weder Schutzräume noch 90 Sekunden Vorwarnung haben.

Und jede Nacht gehen wir ins Bett, das Fenster offen um das Alarm zu hören, und beim Aufwachen gilt der erste Blick dem Handy – ist es schon vorbei?

Gute Nacht aus Tel Aviv,

Euer Ofer

p.s. es ehrt und freut mich, dass ihr meine Worte weiterverbreitet.


4 Kommentare:

  1. Liebster Ofer,

    seit einigen Tagen verfolge ich aus Jerusalem Deine Reflektionen auf dem Blog. Es tut mir leid zu hören, dass Dich die Situation so mitnimmt. Lass uns hoffen, dass es bald vorüber ist!

    Wenn ich mir jedoch eine kritische Anmerkung erlauben darf. Du schreibst mehrmals über die Opfer und beziehst Dich dabei nur auf "Frauen und Kinder". Auch in vielen Zeitungen lese ich dies wie so oft, wenn es um Krieg geht. Abgesehen davon, dass Dein Blog ziemlich deutlich zeigt, dass Du ebenfalls Opfer der derzeitigen Eskalation bist und stark darunter leidest, ist es m.E. höchst problematisch nur die Frauen und Kinder als Opfer zu identifizieren. Denn damit reihst Du Dich in gewisser Weise genau in den Diskurs ein, welcher den Männern, die den Krieg führen, jegliche Menschlichkeit abspricht. Zum einen sind defakto unter den Männern die grösste Zahl von physischen Opfern zu finden. In der Operation Cast Lead waren, wenn ich mich recht erinnere ca. 2/3 der Toten Männer. Zum anderen aber ist es m.E. genau diese Argumentationslinie, welche den Männern ihre Ängste, Gefühle...ihr Opfersein abspricht, welches Männer dazu animiert ihre Gefühle zu ignorieren und rein "rational" bzw. besser gesagt vermeintlich rational zu agieren. Auch zeigen Umfragen unter Männern zu ihren Motivationsgründen in den Krieg zu ziehen, dass die Mehrheit angibt ihre Familie schützen zu wollen, weil sie genau darin ihre Rolle sehen "Frauen und Kinder zu schützen"! Die Frage ist weshalb Männer das Kämpfen als Ihre Form des Schutz gebens zeigen und Frauen dies umgekehr von Ihnen auch erwarten. Denn abgesehen davon, dass die Mehrheit der Männer ihre Rolle so sehen sind es die Frauen, die hinter ihren Männern stehen und sie in ihrem Kampf unterstützen und dies auch von ihnen erwarten. Insofern sind alle in gewisser Weise "arme Opfer" bzw. weder die Frauen noch Männer sind die "armen Opfer" sondern wir sind alle involviert. Den Männern ihre Menschlichkeit dadurch abzusprechen, dass man nur der "Frauen und Kinder" gedenkt fördert insofern nur eine Haltung, die den Männern die Rolle des Kämpfers zuordnet. Auch Du und ich als Männer sind Opfer dieses Konflikts und dürfen Angst haben und uns ggf. sogar weigern mitzumachen (was bei uns beiden, die ja nicht dienen nicht wirklich relevant ist). Insofern finde ich es auch schön, dass Du zeigst wie sehr Du, stellvertretend wahrscheinlich für viele Väter und Männer hier in Israel (und sicherlich auf auf der pal. Seite) leidest.

    Having said this....hoffe ich Dich beim nächsten Treffen unseres Israeli-Palestinian Business Forums wieder dabei zu haben. Es ist vielleicht ein nur sehr kleiner Beitrag, aber solange die Menschen ihren Alltag vorziehen wird sich wenig verändern an der lokalen Situation. Es ist vielleicht nur ein kleiner Beitrag zur Verständigung, aber mit dem Alltagsdialog beginnt es!

    Alles Liebe,
    Dein Samson

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    1. Lieber Samson,

      ich stimme dir zu. Wie ich bei jedem Eintag aufs Neue feststellen muss, ist das Abrutschen in Floskeln eine ständige Gefahr – und dabei ist das Wort "Gefahr" nicht übertrieben, weil Floskeln, Gedaneknmuster usw. Uns in diese Misere immer wieder hineinführen.

      Es ist auch leider, so wie bei der letzten "Runde" mit Gaza, wieder eine andere Situation eingetreten als vor fünf Tagen. Die Legitimation, über das israelische Leiden zu reden, nimmt ab, und zwar zurecht. Dies sei nicht mit der Frage der Schuld zu verwechseln – ich habe versucht, als Reaktion auf ein Kommentar nach einem der letzten Beiträge, die Komplizität der Situation auszuschildern. Da besteht ebenfalls die Gefahr der Vereinfachung, die der der Redefloskeln ähnlich ist.

      Wie Karl Jaspers uns sagt – im Jahre 1945-6 – wir sollten uns davor hüten, in Verallgemeinerung zu fliehen, wie "ist doch egal, Israeli oder Palästinenser, alle sind Menschen und leiden auf der gleichen Art und Weise". Differenzierung ist ein Garant menschlichen Denkens.

      Und da kommt eine Differenzierung, die, schlicht, grausam ist – das Leiden der Soldaten, die einen Befehl bekommen zu töten und zu sterben, sich zwischen Würde und Leben zu entscheiden – das ist ein Leiden, das weder du noch ich verstehen können, da wir beide nicht dienen.

      Was das andere Leiden angeht, da gebe ich dir wieder Recht. Wie ich Ori heute morgen in den Kindergarten gebracht habe, war das Zittern meiner Hände nicht anderes als bei der Mutter die neben mir ihren Sohn etwas länger als üblich geküsst hat.

      Sei lieb gegrüßt – über unsere Treffen reden wir seperat,

      Dein Ofer

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