Samstag, 12. Februar 2011

Israelisches Tagebuch 45

Eine kurze Studie in Geographie

Die gute deutsche Sprache hat ihre innere Weisheit, bewiesen durch nähere Betrachtung gewisser Ausdrücke, denen man im alltäglichen Sprachgebrauch keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Zum Beispiel – Nahost. Ihr denkt sicherlich – schenken wir dem Nahen Osten nicht mehr als genug Aufmerksamkeit?

Das Ihr dies tut steht außer Frage, sicherlich. Aber habt Ihr schon bemerkt, dass man auf Englisch "Middle East" sagt, also Mittlerer Ost? Woher kommt es also, dass man auf Deutsch den Osten nah bei sich sieht? Ist es vielleicht das Resultat der türkischen Kanonen die auf Wien geschossen haben, Schüsse die für die beteiligten Österreicher ganz schön NAH vorgekommen sind? Wenn der Mittelpunkt der Welt Preußen ist, dann ist Jerusalem in der Tat östlich aber nah, Afghanistan ein kleines Stückchen ferner, also Mittelnah, und Siam, Korea und Peking ganz schön fernöstlich sind.

Ich muss hier hinzufügen – Diskussionen mit Deutschen über die genaue Platzierung des Ostens können bös ausgehen. Als Beispiel kann ich eine Unterhaltung nennen, die ich einst mir dem Vater einer ehemaligen Lebensabschnittsgefährtin von mir geführt habe. Es ging um Leipzig und Dresden, und ich, ausländisch unwissend, verwendete den Ausdruck "Ostdeutschland" um diese zwei Prachtstädte geographisch einzuordnen. "Dresden und Leipzig, genauso wie Berlin und Schwerin, " brüllte der freundliche fast-aber-doch-nicht-Schwiegervater-gewordene Mann, "liegen in Mitteldeutschland! Ostdeutschland ist Königsberg!"

Es ist also alles eine Frage des Betrachtungspunkts, dachte ich mir als ich mich in den Kleiderschrank der Nachbarn zum Nachtschlaf verkroch. Am besten kann man diese neu gewonnene Weisheit mit dem interessanten Vergleich ausschildern:

Wenn ich einen Israeli frage, wie fern Deutschland liege, antwortet er – "gar nicht soweit, weniger als 4 Flugstunden entfernt, naja, wir sind hier die letzte Bastion Europas, eine Art Grenzland."

Die umgekehrte Frage, also wie weit von Berlin Tel Aviv nun liege, beantwortet der Durchschnittsdeutsche folgendes – "Mensch, eigentlich ganz schön weit weg, es ist ja Asien, oder?" hebt seine Augenbrauen, schaut den Fragesteller irritiert an, und setzt fort – "also sicherlich fünf und sechs Stunden weit weg."

Berlin–Jerusalem: 2908 Km. (und wenn wir schon dabei sind: Berlin–Kairo: 2899). Durchschnittliche Flugzeit: 3 Stunden und 50 Minuten. Ist ja an sich wirklich nicht so weit weg, wenn man zum Beispiel bedenkt, Las Palmas liege 3603 Km weit weg von Berlin – also sollte den Deutschen Falafel besser schmecken als Paella. Las Palmas ist aber im Westen, und West bleibt West, eine glänzende Einheit von Berlin bis Kaliforniern, dem unterstellt man nicht solche kleinlichen Abstufungen wie nah, fern oder mittel.

Auf die Berlin-Jerusalem Entfernung zurückzukommen – man denkt, die Geographie sei eine ziemlich klare Angelegenheit. Und doch sieht man wie die Israelis sich schon die Euromünze mit dem Davidstern auf der Rückseite vorstellen, während die Deutschen sich in Sicherheit wiegen und glauben, die ganze Nahostdiskussion ist gut um der Wochenendausgabe der "Süddeutsche" Stoff für die Seiten 4-6 zu geben, darüber hinaus aber mit der europäischen Realität wenig zu tun hat. Und beide, und das macht mir tierisch Spaß zu schreiben, irren sich gewaltig.

Was passiert aber wenn man noch die Nord-Süd Achse hinzunimmt? M. aus Berlin sagte über die oben erwähnte a-lá-"Kopf im Sand stecken" europäische Ignoranz, man ignoriert dass ein Ägypter nach Italien regelrecht schwimmen kann.

Ob er dort mehr Demokratie finden wird, bleibt offen. Das gehört aber in eine andere Diskussion.

Euch allen ein schönes Wochenende,

Euer Ofer

Dienstag, 8. Februar 2011

Israelisches Tagebuch 44

Liebe Freunde,

Ich schäme mich. Mehr dazu später.

Als ich zehn Jahre alt war, rief mich meine Mutter ins Wohnzimmer. Ihrer Stimme war ein einzigartiges Aufregen zu entnehmen, eine zurückgehaltene Dringlichkeit. Ich bin ihrem Ruf gefolgt, und fand sie vor dem Fernseher. "komm her mein Kind. Schau, und merk Dir was Du siehst."

Was habe ich gesehen? Ich durchwühle durch all meine Kindheitserinnerungen, und finde diesen Tag, diesen Moment im Wohnzimmer meiner Eltern, vor flackernden Bildern im Fernseher. Menschenmassen mit komischen bunten Kleidern und unmöglichen Friseuren, ein Meer von Fahnen und aufgeregte Reporter die auf hundert Sprachen in alle Welt strahlen – die Mauer ist gefallen, Berlin ist wieder eins. "Merk Dir, was Du siehst, mein Kind, " sagte meine Mutter, ihre Augen glänzten, und mein Vater der schnell ins Zimmer eilte murmelte nur, "unglaublich, unglaublich", und zündete sich eine Zigarette nach der anderen.

Wer hätte das gedacht, wer hätte den Deutschen, diesem an Gehorsamkeit und gescheiterte Revolutionen gewöhnte Volk zugetraut, diese politische Wende herbeizuführen, und zwar ohne Blut, ohne auf dem Weg Frankreich zu besetzen? Weil, das wisst Ihr ja, so was hat man von Euch erwartet. Man sagte, die Deutschen, wenn sie wieder vereint sind, werden wieder an Polen knabbern, oder die EU für sich erobern (oh Moment mal, das ist doch passiert, oder?) oder einfach der ganzen Welt sagen – lässig, und ohne die berühmte deutsche Höflichkeit zu vergessen – liebe Leute, dieses Spiel mit der Demokratie ist nicht unsers. (Das erinnert mich an eine geniale Geschichte, die ich von meiner guten Freundin V. gehört habe – sie saß in einem Konzert der zeitgenössischen Musik in München, vor ihr saßen zwei Herren, und nach einer halben Stunde hörte sie wie der eine seinem Freund auf tiefstem Bayerisch sagte – "An sich ist Toleranz kein deutsches Wort").

Wer hätte es Euch zugetraut. Das ist die Hauptfrage hier.

Und wer hätte Arabern eine friedliche Revolution zugetraut? Ich meine, sie sind doch Araber, Demokratie ist nicht ihr Spiel, Redefreiheit und Menschenrechte erst recht nicht, oder? Ich werfe hier vielleicht den ersten Stein, aber ich werfe ihn senkrecht gen Himmel mit der Erwartung, er werde meinen Kopf treffen. Weil auch ich habe diese Sünde begangen, und bei jeder endlosen Nahostkonfliktdiskussion mit einer ernsthaften, allwissenden Miene gesagt – Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten, die Araber kennen, können und wollen so was gar nicht haben. So. Es sind doch Araber, Mensch, sie sind nicht so wie wir, es gibt ja eine Mindestmenge an Schnee die man in seinem Leben gesehen haben muss bevor man die französische Revolution überhaupt begreifen kann. Oder habt Ihr eine bessere Idee, wie man die Europäer (mich inbegriffen, natürlich) von den demokratieuntauglichen Völkern, also all den anderen, unterscheiden könnte? Wo steckt dieser Sinn für Menschenrechte, wenn nicht im Schnee? Vielleicht in der Bratwurst?

Wie alle Israelis, bestand meine erste Reaktion auf die Bilder aus dem Al-Tahrir Platz in Kairo aus nackter Angst. Natürlich stehen wir auf Demokratie, und wir ziehen gern immer wieder über unsere Nachbarn her, die uns Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen machen während sie selber alle von Diktatoren regiert werden. Aber komisch genug, haben wir uns (mehr als die Araber, anscheinend) an diese Diktatoren gewöhnt. Wollen wir wirklich wissen, was 80 Millionen Ägypter wählen würden, sollte es zu freien Wahlen im Lande des Nil kommen? Nein danke. Sie werden sicherlich die "Muslime Brüder" wählen, die als erstes den Friedenvertrag mit Israel für nichtig erklären. So haben sie doch bedroht. Diese Angst hat Bestand – die "Muslime Brüder" stehen in der Tat nicht auf uns, um es milde auszudrücken – und ihr Wahlsieg wäre für Israel fatal.

Schaut Euch aber die Menschen an, die seit über einer Woche auf dem "Platz der Befreiung" (das ist die Bedeutung von Al-Tahrir) weilen – hört was sie sagen, achtet auf die Transparenten in ihren Händen. Diese Menschen, dieses Volk, so groß wie das deutsche, haben an Euren Unis studiert, haben bei Euren Firmen gearbeitet, haben Eure Restaurants geputzt - und während wir alle (wie gesagt, der Stein trifft demnächst meinen Kopf) dachten, unter dem Kopftuch schweben dunkle Islamdeutschlandgedanken, dachten sie sich – das können wir auch, diese Freiheit, diese Gleichheit, diese Demokratie, das geht auch jenseits des Mittelmeers. Und dazu kann ich nur sagen – bei der nächsten Sarrazin Diskussion, beim nächsten Mal wenn in Deutschland Zweifel über den Sinn der Integration hochkommen – denkt an das Bild aus dem Platz der Befreiung, denkt an das Bild aus dem Brandenburger Tor, weil sie eins und dasselbe Bild sind.

Ich schäme mich also, dass ich meine Angst, meine Vorurteile den Arabern gegenüber mich taub und blind habe machen lassen. Dass ich Hass zu sehen dachte wo Hoffnung ist, dass ich die Vergangenheit da gesucht habe, wo die Zukunft entsteht. Und wie ein prominenter israelischer Journalist geschrieben hat – ich verbeuge mich vor dem mutigen ägyptischen Volk. Meine Tochter ist zwar zu klein um sich später an diese Tage erinnern zu können. Ich werde ihr aber in vielen Jahren davon erzählen, wie ich mit ihr in meinen Armen vor dem Fernseher stand und der arabischen demokratischen Revolution Zeuge wurde.

In diesem Sinne,

mit den liebsten Grüßen,

Euer Ofer

p.s. eine kleine Korrektur - "an sich ist Toleranz kein deutsches Wort" ist ein Zitat von dem Satiriker Gerhard Polt. Danke Volker!