Montag, 20. September 2010

Israelisches Tagebuch 36

Ein deutscher Moment (oder: Realitätsverlust im großen Stil)

Liebe Freunde,

ein guter Freund von mir der gerade aus Berlin zurückgekehrt ist hat heute früh bei uns vorbeigeschaut. Ich war nicht da, leider war ich gerade beschäftigt mithilfe meines Orchesters die vierte Mendelssohn gründlich zu vernichten, zum Glück aber war meine graziöse Gattin anwesend um ihn zu begrüßen und seinen Mitbringsel entgegenzunehmen. Was Schöneres hätte er aus meiner geliebten Stadt nicht bringen können. Nein, er hat keine Praline mitgebracht, auch kein Lübecker Marzipan (das wäre das Zweitbeste, übrigens). Nein nein, liebe Freunde. In der kleinen Plastiktüte die ich auf dem Flur entdeckt habe war sie, jungfräulich scheu und ängstlich, fremd wie ein Sarrazin auf dem Basar, eine wunderschöne Flasche "Augustinerbräu helles Bier". Oh Freude, oh Glück.

Ein solches Symbol der hohen deutschen Kultur kann man aber um Gottes Willen nicht einfach so in sich hineingießen. Das wäre ja barbarisch, fast wie die Weihnachtsganz (oder war das Ostern?) vor dem Fernseher zu verschlingen. Man muss die passende Atmosphäre schaffen, die richtige Ambiente (so wie die Neuberliner sagen), ansonsten würde man dem ganzen Akt ja was lächerliches, fast makaberes hinzufügen, und das Herz, statt sich zu freuen, würde nur an Schwere gewinnen.

Ich habe aber alles was man braucht, um die passende deutsche Realität um mich zu schaffen, der israelischen Umgebung ignorierend. Ich beschreibe Euch die nötigen Schritte die ich dafür unternommen habe. Als allererstes – Klimaanlage anmachen, und die Temperatur auf das Minimum (also 16 Grad) stellen. Diese Maßnahme (nicht zu verwechseln mit "Maasnahme", die kann es wahrlich nur in Bayern geben) dauert einige Minuten. In der Zwischenzeit muss man natürlich das einzige Bierglas, das während des Umzugs in das heilige Land nicht in tausend Stücken zerbrochen ist gründlich säubern. Als musikalische Begleitung sollte man kreativ sein, aber nicht zu plump – also nichts mit "Klappt die Hände zusammen und lasst uns fröhlich sein". Zu erhoben wäre an dieser Stelle auch falsch – also weg mit Beethovens sechsten. In meiner Sammlung bleibt dann die liebe Frau Dietrich, vielleicht mit "Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre", oder doch die Comedian Harmonists mit "Mein kleiner grüner Kaktus".

Bei meinem letzten Besuch in Berlin, also vor ein Paar Wochen, habe ich auf dem Trödelmarkt so ein kleines Blechschild gekauft, das ich jetzt auf den Tisch stelle, auf dem eine DDR-Rennpappe zu sehen ist in Militärfarben, daneben einige NVA Soldaten, und darunter der Satz "Zum Schutz der Arbeiter-und-Bauern-Macht".

So. Jetzt hat das Zimmer die richtige Temperatur erreicht, und ich nehme aus dem tiefsten Winkel meines Kleiderschranks die Pullis, die ich in Israel niemals werde anziehen können, weil es hier niemals so kalt sein wird. Aber das Bild muss perfekt sein, also ziehe ich mir so eine H&M Kreation an, und nehme die kostbare Flasche aus dem Kühlschrank, und singe dabei fröhlich – "und wenn ein Bösewicht was Böses zu mir spricht, dann hol´ ich mir mein´ Kaktus und er sticht sticht sticht…"

Die nächsten Momente sind eigentlich zu intim, um sie schriftlich in alle Welt zu verbreiten. Selbst ich habe meine Hemmschwelle, und werde mit Verlaub den Moment des heiligen Zusammenkommens zwischen Mensch und Reinheitsgebot, zwischen flüssigem Glück und durstiger Seele nicht beschreiben.

Und jetzt sitze ich hier und versuche diesen Moment zu verlängern, in dem ich Euch diese Zeilen schreibe. Die Flasche steht leer neben dem Rechner, die goldene Farbe des Etiketts ist etwas verblasst, und große Tropfen die dem braunen Glas herunterrollen bezeugen von der nahöstlichen Luftfeuchtigkeit, derer Existenz meinem Fluchtversuch in eine andere Realität ein abruptes Ende setzt.

Im nächsten kulinarisch-philosophischen Eintag: Hummus in Berlin.

Bis dahin, seid alle lieb gegrüßt,

Euer Ofer

Donnerstag, 16. September 2010

Israelisches Tagebuch 35

Liebe Freunde,

"Shana Tova" – frohes neues Jahr, so begrüßt man sich in Israel an diesen Tagen. An dem 9 September endete das alte Jahr, und das neue – Nummer 5771 nach der jüdischen Zählung – hat begonnen.

Es ist lange her, seitdem ich einen neuen Eintrag geschrieben habe. Und wieder muss ich sagen, es hat nichts damit zu tun dass mein Leben hier in Israel etwa an Langeweile gewonnen hat. Ganz im Gegenteil.

Aber als allererstes muss ich gestehen, dass ich vielleicht ein wenig gelogen habe (ach, dieses Wort, "Lüge", ist in diesem Zusammenhang vielleicht ein wenig brutal. Sagen wir so – ich habe gewisse Informationen, die ich im Blog veröffentlicht habe, im Hinblick auf den Frieden mit meiner geliebten Frau Gili leicht, aber wirklich leicht verändert.) Als ich über "meinen guten Freund" schrieb, der die Gen-Tests machen musste um sicher zu sein dass er mit seiner Frau kein Kind mit drei Beinen und einem Talent zum Geigenspielen bekommt, habe ich das getan, was vielen von uns (vor allem denen, die ein wenig an einen Größenwahn leiden) ab und zu passiert – ich habe über mich in der dritten Person geredet. Na und? Ich bin mit mir meistens ziemlich gut befreundet, also kann ich mich ohne jegliches Bedenken als "meinen guten Freund" bezeichnen. Oder anders formuliert – Gili ist schwanger. Hochschwanger. Und mit hochschwanger meine ich, dass falls sie beim Schlafen sich auf die Seite dreht, bekommen wir Probleme die an die zurzeit heftig diskutierte Platzenge im Westjordanland erinnern.

Was soll man noch dazu sagen? Gili ist schwanger mit einem Kind, und ich bin mit einem Gedanken schwanger – und beide wachsen mit gleichem Schritt, sodass ihr Bauch und Mein Kopf langsam leicht zu verwechseln sind. Ich werde Papa. Ich? Man braucht schon ein gutes Stück jüdischen Humorsinns um an einen solchen Gedanken zu kommen. Ein Wesen wird mich in zweieinhalb Monaten anschauen, und von mir Erklärungen verlangen, wieso und warum und weshalb und wann und wie und wo? Spinnt Ihr alle oder wat? Geschweige denn dass ich im Kreissaal den großen Unterstützer geben muss. Den Mann, also. Aber ich möchte Euch bitteschön daran erinnern – Männer, also jene haarige, starke, leicht nach Bier und Schweiß duftende Gestalten, die in solchen Momenten wo so gewisse Sachen die normalerweise innerhalb des Körpers sind plötzlich ans Tageslicht kommen die Ruhe bewahren, also diese Männer werden in der Regel Holzfäller, oder LKW-Fahrer, oder ganz normale BKA Beamte. Aber sicherlich keine Hornisten. (liebe Hornisten, bitte nicht beleidigt sein. Ich bin leicht panisch, und meine es nicht persönlich. Der Horn-Michael aus Nürnberg zum Beispiel kann sicherlich, mit ein wenig positiver Energie, einen Baum mit seinen bloßen Händen entwurzeln).

Spaß beiseite, was soll ich sagen, schon jetzt bin ich der glücklichste Mensch in der ganzen großen Welt. Mehr kann ich darüber einfach nicht schreiben.

Und ansonsten?

Fast genau vor einem Jahr bin ich hierher gekommen. ("fast genau" ist übrigens sehr israelisch. Mein Gehalt reicht zum Beispiel "fast genau" um in Israel leben zu können, so wurde mir versprochen. Es fehlt lediglich "fast genau" nochmals das gleiche, um gleichzeitig, was für einen Wunsch, essen UND Miete zahlen zu können.) Vor ein Paar Tagen habe ich bemerkt, es sind 35 Grad und 300 Prozent Luftfeuchtigkeit, und ich schwitze nicht. Vielleicht ist mein Körper meiner Seele weit voraus? Oder vorher, auf dem Weg von der Uni zurück nachhause – ich habe einen anderen Fahrer elegant von Rechts überholt, ohne das leiseste Gefühl dabei zu haben, das Gesetz das ich gerade breche hat irgendwelche Bedeutung. Da war ich mit dem Polizisten, der die Szene von der Straßenseite sicherlich mitbekam, einer Meinung.

Und doch frage ich mich bei solchen Momenten – war es in diesem Leben, dass ich mit Frau P. in dem kleinen österreichischen Dorf Holunder für die Marmelade gepflückt habe? War ich das, der mit einem Motorrad quer durch Mitteleuropa, durch Berg und Alm, Feld und Tal geritten ist? Ich, der heute im Stau stand bei der Ausfahrt aus Tel Aviv und sich langsam in seinen Autositz dahin geschmolzen ist?

Das nennt man wohl Realitätsriss. Aber es gibt wirklich diese Momente hier, in denen ich mich laut frage – war Deutschland ein Traum? Ich nehme an, weil ich mir diese Frage auf Deutsch stelle, lautet die Antwort ganz einfach nein. Aber es kommen schon solche Situationen vor, wo ich es nicht für real halten kann, dass beide Lebensformen – der deutsche und der israelische – auf einem Planten existieren können.

Dieser Text ist nicht gedacht als eine Art "Zusammenfassung" des letzten Jahres, oder einen Rückblick. Ich bin ja erst "fast genau" ein Jahr hier, und so deutsch bin ich geblieben, dass ich den Tag vorm Abend nicht loben werde. Aber die Tatsache dass ich den Verb "Loben" verwende verrät Gutes.

Ich wünsche Euch, meinen lieben Freunden, ein wunderschönes, frohes, glückliches neues jüdisches Jahr, und uns wünsche ich ein baldiges Wiedersehen –

Bis dahin, macht es gut,

Euer Ofer