Mittwoch, 21. März 2012

Israelisches Tagebuch 53

Nachtgedanken

Ich sitze im Auto an der Ampel vor der Oper, heute gibt es "Lucia di Lammermoor", im Radio knistern Lieder die ich nicht erkenne. Der Himmel ist gelb-braun, die Wettervorhersage hat wieder versagt, ich denke an die Wäsche die im gelben Wind vor unserem Balkon flattert, Hamsin heißt dieser Wind bei uns, wieder ein von den Arabern geklautes Wort, Hamsin, Sirocco heißt er bei den Franzosen, glaube ich, dieser hinterhältige Wind der plötzlich aus dem Süden kommt – Föhn heißt er bei Euch, oder? – der Sand und Staub aus der Wüste mitbringt.

"Liebe Grüße aus Saudi Arabien", frohlockt mein Kollege, ich knirsche mit den Zähnen im vergeblichen Versuch, den Sand dazwischen loszuwerden. Jeder Atemzug fällt schwer, die Sänger auf der Bühne kämpfen nach Luft, und die alten Damen im Publikum husten höflich, um sich entschuldigend blickend, in bestickte Taschentücher.

"Hamsin", sagt Leon, unser russischer Bühnenarbeiter, mit schwerem Akzent, und ich denke mir – vielleicht ist es nicht mehr wichtig dass wir dieses Wort von den Arabern geklaut haben, wenn russische Bühnenarbeiter es selbstverständlich aus einem trockenen Gesicht ausspucken.

"Edgardo," stöhnt Lucia auf der Bühne, ich laufe mit dem Finger übers Horn und betrachte die feine Staubschicht die sich darauf gebildet hat, liebe Grüße aus der Wüste, an wen sind aber diese Grüße gerichtet, der Staub wandert weiter, dämmt den Glanz auf der goldenen Kuppel der Al-Aksa Moschee, besänftigt die Dornen des Stacheldrahtzauns an unseren Grenzen, verdickt und verdreckt das Blut der Verwundeten und Toten auf den Straßen von Homs und Daraa in Syrien.

Lucia stirbt, Edgardo ebenfalls, ich ziehe mich schnell um und renne zum Auto, bloß nicht zu tief einatmen. Der Himmel ist jetzt schwarz und vor dessen Hintergrund, direkt hinter der Oper, schimmern die Lichter des Hauptquartiers der israelischen Armee, wer weiß, denke ich, vielleicht hat der Staub die Kriegspläne unserer Generäle dort oben in ihren Hightech Büros bedeckt, vielleicht nahm er, der Staub, eine überraschende Kehrtwende gen Osten und hat die iranischen Urananreicherungsanlagen in Isfahan und Bushhar außer betrieb gesetzt. Der Verkehr ist ruhig um diese Zeit, und ich denke an ein Zitat von Max Frisch aus dem zerbombten Berlin, "Ein Hügelland von Backsteinen, darunter die Verschütteten, darüber die Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die "Iphigenie". Da war es aber schon die Stunde null. Bei uns ist erst – oder schon? - die neunzigste Minute.

Es ist Ende März, und es wird mir klar, während ich im Garten die Wäsche abschüttele, dass der nächste Regen der das ganze hier wegspülen soll erst in Oktober kommt, und wer weiß, wer weiß, was er bis dahin noch alles wegzuspülen haben wird.

Gute Nacht aus Tel Aviv,

Euer Ofer

Mittwoch, 7. März 2012

Israelisches Tagebuch 52

Liebe Freunde,

Ich verrate Euch ein kleines Geheimnis, Ihr müsst mir aber versprechen, mir nicht allzu sehr böse zu sein. Ich war nämlich letzte Woche für ein Paar Tage in München, und habe mich ja bei keinem gemeldet – mit einer guten Ausrede, allerdings. Es handelte sich um einen Forschungsbesuch zwecks meiner These, und ich war von früh bis spät im Archiv einer gewissen sudetendeutschen Organisation begraben, um Berge von Büchern und Akten zu lesen. Ich wäre liebend gerne zumindest nach Nürnberg gefahren, die Zeit war dafür einfach zu knapp. Soviel zu meiner guten Ausrede.

An einem Abend habe ich eine Karte für die bayerische Staatsoper bekommen, es gab meine geliebte "Butterfly", und so fand ich mich in einem See von gut gekleideten Münchnern und Münchnerinnen, das rollende "R" flog mir um die Ohren, und meine schicke neue H&M Kordjacke kam mir von wie ein gebrauchter Waschlappen aus dem 19ten Jahrhundert. Aber was tut man nicht für die Kunst!...

Die Vorstellung war wunderbar, das Bühnenbild traditionell und schön, und beim letzten Akt habe ich wie immer Tränen in den Augen gehabt. Bevor ich hier aber meine übertrieben romantische Seele auf Eure Bildschirme schmiere, erzähle ich Euch von einer wunderbaren Begegnung die ich direkt nach der Vorstellung hatte.

Ich wusste nämlich dass mein alter Freund aus Berliner Zeiten, S., eine Stelle im Staatsorchester hat. Und tatsächlich, als ich zum Orchester geschaut habe, sah ich sein unverkennbares Gesicht. Nur die Haare waren lediglich etwas ergraut. Nach dem Applaus habe ich mich dann so schnell wie möglich zum Bühneneingang begeben, um ihn zu erwarten.

Und tatsächlich – nach ein Paar Minuten – kam er raus. Er sah mich an, und blieb stehen, wie vom Blitz getroffen. "Ofer?!!" – er konnte es nicht glauben – "Was machst denn Du hier?". Man muss dazu sagen, wir haben uns seit ca. 8 Jahren nicht mehr gesehen, sodass die Überraschung durchaus berechtigt war. Er liest zwar ab und zu (na ja, wahrscheinlich mehr ab als zu) diesen Blog, aber wie Ihr wusste er nicht dass ich in die bayerische Hauptstadt komme. Wir sind dann ein Paar Biere trinken gegangen, und haben uns für den nächsten Abend wieder verabredet.

Und so kam es, dass wir am nächsten Tag in der Nähe des Max-Weber-Platzes, gemeinsam mit ein Paar anderen Kollegen aus Berliner Zeiten, das wunderbare helle bayerische Bier genossen haben. Wieso aber erzähle ich es Euch? Bis jetzt, muss ich gestehen, ist die Geschichte schön aber doch nicht so interessant. Es war das bei mir entstandene sonderliche Gefühl, das mich zum Beschreiben dieser Gegebenheit veranlasst.

Wie ich da saß, und mich mit S. und D. ausgetauscht habe, wie geht es jenem und was machen die und der, habe ich das Gefühl erwartet, dass ich immer beim Unterhalten mit Freunden aus Deutschland habe – Neid. Klingt hart, ich weiß, aber es entspricht der Wahrheit. Neid. Neid darüber, dass diese Freunde weiter in solchen Spitzenorchestern sitzen, mit den besten Kapellmeistern und Sängern, mit einem Gehalt das das Drei- bis Fünffache von meinem ist, mit einer (von ihnen oft unterschätzten) Ruhe, Ruhe im Leben, Ruhe im musikalischen Schaffen. Neid über das unbeschwerte Leben, darüber, dass sie zur Arbeit fahren können durch Strassen die gut und sicher sind, dass sie wissen, Ihr Arbeitsplatz ist bis zum Ende aller Zeiten sicher, und darüber, klingt ja fast schon makaber, dass ihr blöder Ministerpräsident nicht mit ihrem Leben gegen einen anderen blöden Iraner pokert, von wegen "schau wer die größere Rakete hat".

Aber er kam nicht, dieser Neid. Gar nicht. Es ist nicht so, dass alle von mir geführten Gründe keinen Bestand hätten. Haben sie ja auch. Bei Euch ist zurzeit die größte Gefahr, dass die FDP verschwindet, bei mir hier droht eher das gesamte Land zu verschwinden. Und doch – und doch saß ich da, und habe mich gefreut. Und war auch ein wenig stolz. Stolz darüber, dass ich trotz des schweren Umzugs nach Israel es geschafft habe, Kontakt zu meinen Freunden – zu Euch – zu behalten. Dass ich es hier geschafft habe, eine herzschmelzende Familie aufzubauen. Dass ich ein Studium gefunden habe, wo ich meine breiten Fachkenntnisse über Deutschland zum Ausdruck bringen kann. Dass es inzwischen viele Menschen gibt, die meine – diese – Worte gern lesen, sich darüber Gedanken machen, diese Worte an andere verschicken, darauf reagieren. Dass ich in einem Orchester sitze und meine Erfahrungen und das, was ich von meinen Freunden und Kollegen in Berlin und Nürnberg gelernt habe weitergeben kann. Ich blickte halt nicht mehr neidisch darauf, was S. und D. haben – obwohl ihr Leben durchaus beneidenswert ist – sondern war stolz, dass auch ich mal ein solches Leben geführt habe, ja, sogar mehr – dass ich mich so glücklich schätzen kann, dieses Leben einmal geführt zu haben. Ich hatte ja immer Angst, meine Verbindung zu Deutschland zu verlieren, dass die zehn Jahre die ich unter Euch verbracht habe keinen bleibenden Eindruck hinterlassen werden. Aber die Tatsache, dass ich das hier schreibe, dass Ihr das lest, die Tatsache, dass S. sich so gefreut mich wieder zu sehen und mich anerkannt hat (das ist ja das Wort, "Anerkennung"), dass M. aus dem Hochtaunus mit mir wieder den Kontakt aufgenommen hat, dass die Familie S. zu mir nach Israel kommt und Familie L. auch schon hier war, dass meine teuere M. mit ihrer Tochter uns auch bald besucht, und das, obwohl ich schon seit 2.5 Jahre nicht mehr in Deutschland lebe – ja Ihr merkt, ich könnte weiter und weiter schreiben, ich erwähne hier ja nur einen Bruchteil dessen, was ich an Kontakte mit meiner "alt-neuen" Heimat habe – das sind alles Zeugnisse, dass ich um meinen "deutschen Platz" nicht fürchten kann, und sogar mehr – dass ich mich mit meinem Leben hier versöhnt habe.

Bevor ich diesen glücklichen Eintrag zum Abschluss bringe, habe ich eine "Redaktionsbemerkung" – oder wie man es üblicherweise in Zeitungen bezeichnet, "in eigener Sache". Anscheinend ist man auch außerhalb von meinem Freundeskreis an meine Zeilen interessiert, sodass ich mich damit ein wenig auseinandersetzen muss, wie ich diesen Blog in Zukunft gestalte. Ich werde ihn weiter an Euch schicken – er wird aber vermutlich ein wenig allgemeiner werden, also nicht nur für das "Fachpublikum" das die Gerüche von Hornventilöl und Falafelfrittieröl voneinander unterscheiden kann. Ich wäre auch über jede Anregung dankbar, über jeden Themenvorschlag, da Ihr schon wahrscheinlich müde davon seid, meine deutsch-israelische Seelenachterbahn zu verfolgen.

Euch allen schicke ich die liebsten Grüße,

Euer Ofer