Mittwoch, 11. Januar 2012

Israelisches Tagebuch 50

Wer Harry Potter gelesen hat, kennt diesen Moment am Bahnhof, in dem man das Gleis Nummer "viereinhalb" sucht. Um daran zu gelangen, in diese Spalte innerhalb der Realität, muss man seine Augen schließen und gegen eine Wand laufen, eine magische Pforte in eine Zauberwelt.

Der Weg zum Diplomatenviertel in Jerusalem ist ein ähnlicher. Es befindet sich in einer Grauen Zone, zwischen "unserem" und "ihrem" Jerusalem, das eine erkennt das andere nicht, kann es aber nicht ignorieren. Diese zwei Jerusalems umarmen sich unfreiwillig, nicht zu fest, um die Einwohner der anderen Seite nicht zu berühren, nicht zu locker, wahrscheinlich weil jede Hälfte davor Angst hat, die andere zu verlieren, oder vielleicht sogar sich selbst.

Man fährt von der Altstadt gen Norden, vorbei an dem berühmten "American Colony" Hotel, ehemaligem Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde in Jerusalem, vorbei an Scheich G´arach, Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen Landhungrigen rechtsextremen Israelis und Dach-über-dem-Kopf hungrigen Palästinensern. Man fährt rechts Richtung Ölberg, Mt. Scoupus, Augusta Victoria, und da, zwischen dem westlichen, israelischen Jerusalem und dem arabischen, östlichen, an diesem "viereinhalb" Gleis, liegt das Diplomatenviertel. Schweden, Spanier, Belgier, eng beisammen sitzend, dicke Autos mit europäischen Kennzeichen und dicken Scheiben, nasse, hohe Steinmauern, und ein Souvenirladen mit Kreuzen aus Olivenholz.

Eine kurze Erklärung – Jerusalem wird nicht als die Hauptstadt Israels anerkannt. Alle Botschaften befinden sich in Tel Aviv – auch die deutsche. Die Diplomaten die in Jerusalem sitzen beschäftigen sich ausschließlich mit der palästinensischen Bevölkerung. Das heißt nicht, es sitzt dort zum Beispiel eine amerikanische Konsulat für Palästina – könnt Ihr Euch einen amerikanischen Präsidenten vorstellen, der einen solchen Satz über die Lippen bringt? – es ist einfach "Eine Vertretung in Ost-Jerusalem". Eine Vertretung die die Hauptstadt, in der sie sitzt, nicht anerkennt, oder doch, aber als eine Hauptstadt eines Staates, den es (noch) nicht gibt. Klar doch. Bonn und Berlin, in einem vereint.

An einem nassen Morgen traf ich mich dort mit einer Gruppe von Palästinensern und Israelis, organisiert (und finanziert) von einer deutschen Stiftung. Geführt wurde die Gruppe von einem jüdischen Israeli deutsch-amerikanischer Herkunft, selber eine Art "viereinhalb" Gleis, (eben an einem anderen Bahnhof), und dementsprechend auch charmant und kosmopolitisch. Der Grund dieses Treffens war eine gemeinsame Reise nach Ramallah, die größte palästinensische Stadt im Westjordanland (nach Jerusalem – aufgepasst!), Sitz der Autonomiebehörde und Zentrum der jungen palästinensischen Wirtschaft.

Es ist viel auf dieser Reise passiert. Zu viel, um alles beschreiben zu können. Wir haben eine neu gegründete Stadt namens Rawabi gesehen, die mit Geld aus Katar, Arbeitern aus dem Westjordanland, Küchentüren aus Bethlehem und Zement aus Israel gebaut wird. Wir haben das neuste Hotel Ramallahs gesehen, Mövenpick, fünf Sterne, groß und beeindruckend, mit einer ewigen, doch so nahöstlichen Marlboro Wolke auf jeder Etage.

Aber das alles wird auf ein anderes Mal warten müssen. Ich will Euch hier über einen Ort erzählen, der an keinem Gleis liegt, einen Ort, um dessen Zugang zu erreichen man auch gegen eine Wand laufen muss, aber die Wand ist hart und man knallt sich dagegen, immer wieder. Dieser Ort ist der Check-point-charlie des 21. Jahrhunderts, die liegen ja überall, diese Check-point-charlies, im internationalen Gewässer vor der Küste Italiens, oder an dem Rio Grande im Süden der USA. "Hier hört die westliche Welt auf" – kennt Ihr diesen Satz? Friedrichstrasse, U-Bahnhof Kochstrasse, Café Adler und John la Carre. Bei uns heißt der Ort Kalandia. Kalandia, mit einem "K" das tief im Hals sitzt, mit sechs Meter hohen Mauern, auf denen, wie ein Friseur aus den 80gern, Stacheldrahtlocken. Das ist das wichtigste Tor zwischen Ramallah und Jerusalem, hier passieren jeden Tag tausende Siedler, Palästinenser, UNO Mitarbeiter, Diplomaten, Militärs.

Ich blickte auf mein neues, schickes Handy, und schaute nach der Uhr. Es war kurz nach Mittag, und ich dachte – Ori schläft jetzt ein, ob ich das Kindermädchen anrufen sollte, lieber nicht, ich wollte keine Verbindung herstellen zwischen Kalandia und dem Schlafzimmer meiner Tochter.

Der Bus fuhr glatt durch das Tor, unkontrolliert, klar doch, wir fahren ja aus Israel raus. Besatzungstourismus. "Wollt Ihr es sehen?" fragte der geübte Grenzgänger der uns führt. Der Busfahrer navigierte auf den Parkplatz, eine viertel Stunde haben wir, dann müssen wir weiter. Ein Mädchen aus unserer Gruppe kennt sich hier aus, "folgt mir," sagte sie, wir gingen in eine Halle, Wellblech und erdrückender Geruch von Urin, und ein kleiner Junge der mit seinem Fahrrad durch die doch kühle Jerusalemer Luft in der Halle seine 8ter dreht. Hier warten jeden morgen die Palästinenser, die aus den "Gebieten" (wie in Israel das Westjordanland heißt) nach Jerusalem wollen. Einige von ihnen wollen arbeiten, andere müssen in ein israelisches Krankenhaus, vielleicht einen Verwandten besuchen. Die Siedler und Europäer dürfen im Auto sitzen bleiben, sie müssen erst gar nicht in diese Halle, sie werden durch das Tor durchgewunken.

Die Halle ist jetzt fast leer, man hört von draußen ein Radio aus einem mit offenen Fenstern stehenden Taxi und das summen der Fahrradreifen des kleinen Jungen, der immer noch seine 8ter um uns dreht, ich schaue ihn an, er kommt mir leicht behindert vor, mit einem stummen Lächeln. Ein alter Mann kommt auf uns zu. Krummer Gang, leicht unrasiert, eine Marlboro Zigarette brennt zitternd in seiner Hand. Er bleibt vor uns stehen. "Das ist Kalandia hier, Kalandia, versteht Ihr, " sagt er auf englisch mit unverkennbarem arabischen Akzent, legt eine kurze Pause, und fährt fort mit einer kurzen Rede, die schon gut geübt ist. Die Soldaten, was ist das für ein Leben, die schmalen Durchgänge, was ist das für ein Leben, von Ramallah nach Jerusalem sind es einige Kilometer, am morgen dauert es aber über zwei Stunden, "was ist das für ein Leben," sagt er, und bleibt plötzlich still. Sein Blick wandert von einem zum anderen, er schaut, wie gut die Rede bei uns ankam, er merkt dass etwas nicht stimmt. Wo wir herkämen, will er wissen. "Palästina, Israel, Deutschland" sagen wir durcheinander. Er ist offensichtlich enttäuscht, er hat sich vielleicht eine Spende erhofft. Er nimmt einen langen Zug von der zitternden Zigarette. Besatzungstourismus.

Da, wo die Halle in viele Gänge mündet, jeder so breit für einen einzigen Menschen, steht ein Schild, "Angenehme Aufenthalt", und darunter eine Uhr, die stillsteht. Mir wird schlecht und ich kehre in den Bus zurück. Wir fahren weiter, jetzt sehe ich die andere Seite von der Mauer, riesige Graffiti von berühmten Palästinensern die in israelischen Gefängnissen sitzen, einige Bilder erkenne ich wieder, sie sind auch bei uns berühmt, einige wurden sogar in dem "Schalit-Geschäft", dem Umtausch gegen den israelischen Soldaten, aus dem Haft entlassen. Wir kommen an einem Verkehrskreis. Ein kräftiger Mann, Mitte dreißig, läuft hin und zurück über den Kreis, dirigiert die Autos. Er trägt keine Uniform – wir sind noch zu nah an dem Check Point, er traut sich nicht – aber alle geben ihm, dem Ampelmann, den nötigen Respekt. Unser Busfahrer aber versucht etwas zu schnell in den Kreis zu fahren, und wird prompt mit einem bösen Blick begegnet. Ich lehne meinen Kopf zurück, und schaue auf die Uhr im Bus. Sie blinkt eine unbestimmte Zeit, und ich denke an Ori, und hoffe dass sie noch schläft wenn ich hier rauskomme.

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Liebe Grüße,

Euer Ofer

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