Mittwoch, 24. November 2010

Israelisches Tagebuch - Sondereintrag

"Erbe"

(Dieser Eintrag wurde in Zusammenhang mit der "Begegnungen" Reihe beim Goethe Institut in Tel Aviv geschrieben. Für Die Einladung, bei dieser Reihe mich und mein Tagebuch vorstellen zu dürfen, und vor allem für das Gefühl dass ich von Yael Goldmann und Dr. Georg Blochmann bekommen habe, für einen Tag mich wie ein echter Schriftsteller fühlen zu dürfen – samt Kordjacke – bin ich den beiden zutiefst dankbar.)

Es bleibt am Ende eine Frage, die mir des Öfteren gestellt wird, wenn ich über mein langes Aufenthalt in Deutschland erzähle, über meine Zuneigung gegenüber diesem Land, seinen Leuten, seiner Kultur – und seiner Sprache. Die Frage wäre gültig auch wenn es um, sagen wir, Namibia gehen würde, oder Island. Sie hat aber natürlich viel mehr Brisanz eben weil es sich um Deutschland handelt. Es gibt einen jüdischen Satz, der oft in Bezug auf Deutschland verwendet wird – nicht von seinem Honig, nicht von seinem Stachel. Der Stachel ist als Jude nicht vermeidbar. Der Honig aber, auf den wollte ich auch nicht verzichten. Also stelle ich mich der deutsch-israelischen Geschichte, mit all ihren Facetten. Und um auf die Frage zurückzukommen – wieso, also wieso Deutschland, bedarf die Antwort eine kurze Geschichte. Na gut, vielleicht doch nicht so eine kurze.

Diese Geschichte wurde immer zu Anlässen besonderer Nähe ausgepackt, wie zum Beispiel am Freitagnachmittag in der Jerusalemer Wohnung meiner Eltern, kurz vor der heiligen Schlafstunde. Sie wurde immer nur mir erzählt, dem musikalischen Nesthäkchen, vielleicht als Beweis für die (tief verborgene) musikalische Begabung unserer Familie. Da sie mir in mehreren Varianten erzählt wurde, je nach Lust und Laune, und da Ihr bedenken müsst – sie wurde von meinem Vater vor vielen Jahren erlebt, und von ihm dann an mich weitergegeben, und ich gebe sie jetzt weiter an Euch – also bekommt Ihr sie quasi über dritte Hand – könnt Ihr nicht allerernstes erwarten, sie würde eins-zu-eins zu den tatsächlichen Ereignissen passen, die ihr zum Grunde liegen. Sie ist also nicht frei von den Früchten der (lebhaften) Vorstellungskraft zweier Waldman-Generationen. Die Geschichte dieses Tagebuchs beweist aber, Ihr nehmt es mir nicht allzu übel.

Und jetzt, genug drum herum geredet – und zurück zur Geschichte.

Es war, so erzählt es mein Vater, am Anfang der 50gern. Die Waldman Familie lebte in einer Wohnung in der King George Strasse (Liebevoll genannt "Rechov hamelech King George Strasse", wobei "Rehov" Straße bedeutet, "Hamelech" – der König), unweit des vorläufigen Sitzes des israelischen Parlaments, der Knesset. Meine Großeltern stammten beide aus Wien (sie wurden in Wien aufgezogen. Geboren wurden sie ein wenig östlicher, darüber redet aber keiner, da "östlicher" in der damaligen Nachbarschaft von Rehavia zwangsläufig "niedriger" bedeutete), und so hat sich um sie ein kleiner Kreis bunter Typen versammelt mit Namen, die ich immer wieder von meinem Vater und meinen Tanten höre, wie der verrückte Tryphus, Tante Klara mit den obligatorischen drei Dackeln, und andere "Jekkes" ("Jekke" ist eine allgemeine Bezeichnung für deutschstämmige Juden, die Pünktlichkeit, Ordnungswahn, und eine gewisse – meiner Meinung nach natürlich gut begründete – kulturelle Arroganz bedeutet), deren durstigen Seele bei jedem deutschen Satz, aufgeweicht durch den Wiener Dialekt meiner Großeltern, dankbar aufging.

Eines Tages kam mein Großvater zurück nachhause, umgeben von einer Luft voller Feierlichkeit, in seiner Hand, mit braunem Papier umwickelt, eine große Pappkartonbox. Er balancierte die Box vorsichtig auf einer Hand während die andere seinen Hut abnahm, und ging in das Wohnzimmer. Meine Oma, mit ihrem scharfen Sinn für besondere Momente, eilte zu meinem Großvater, streckte ihren Kopf ihm entgegen um seinem aufgeregten Flüstern besser zuhören zu können, und nach einigen Sätzen von denen mein Vater nur einige "wooooos" und "jau mei….." verstanden hat, verschwand sie in ihrem Schlafzimmer, um fünf Minuten später heraus zu kommen mit ihrem besten, prächtigen Schabbat-Kleid angezogen und mit dem knappen Satz: "I bin mol weg."

Mein Opa setzte sich derweilen aufs Sofa im Wohnzimmer, seine Augen auf die Box fixiert, in seinen Gedanken verloren. Mein Vater benutzte die Gelegenheit um die Box etwas näher zu betrachten. Er musste nicht lange suchen bevor er das fand, wonach er gesucht hat – die Briefmarken, die meinen Papa damals brennend interessiert hatten. Komisch sahen sie aus, offensichtlich ausländisch, aber bevor mein junger Erzeuger seinem diebischen Plan nachgehen konnte hörte er die Wohnungstür sich öffnend, und gerade schnell genug war er um sich zurückzuziehen und der Kolonne Knutchen-Gebender Freunde seiner Eltern zu entkommen.

Natürlich hatte er die Szene weiter aus einer sicheren Distanz beobachtet, und zu seinem großen Verblüffen machte sich meine Oma erstmals an die Fenster, schließ sie und lies auch die Jalousien runter, um sich dann majestätisch zu ihrem Gatten zu setzten. Er, also der Gatte, also – mein Großvater, Meir Waldman, ein Wiener Rechtsanwalt und Zionist, wartete bis die Gesellschaft sich beruhigt hat. Alle waren sie da – der Tryphus, Tante Klara, der Onkel vom Erdgeschoss (über den meine Oma immer lässig sagte- Mog I net, Kenn I net, will I net.) und noch ein Paar, die mein Vater nicht kannte.

Mein Opa streifte die Box, einmal links, einmal rechts, und begann sie langsam zu öffnen. Bei jedem Reisgeräusch dachte mein Vater, sein Herz platzt gleich, da die Briefmarken beschädigt werden könnten. Aber als er den Gesichtausdruck meines Opas merkte, verging ihm dieser Gedanke. Was war da, auf dem Gesicht des alten Meir, das mein Vater auch heute, mehr als fünfzig Jahre später, immer noch ohne Worte lässt, aber voller Bewunderung? War das Sehnsucht? Heimweh?

Langsam ging die Box auf, alle hielten ihren Atem an, und mein Vater, der schon damals nicht so gut seinen Atem anhalten konnte, eilte um über die Schulter seines Vaters zu schauen. In der Box, nebeneinander stehend, waren längliche, schwarze Hüllen. Mein Opa nahm eine heraus, gab sie meiner Oma, die sich ans Grammofon machte. Aus der Hülle nahm sie eine LP heraus, legte sie auf die Drehscheibe, und setzte die Nadel darauf. Bald füllten merkwürdige, zauberhafte Klänge die kleine Jerusalemer Wohnung, und mein Opa, seine Augen voller Licht, schaute seinen Sohn an und sagte, "das, mein Sohn, was Du da hörst, ist die Matthäus Passion."

Und die alten Jekkes saßen alle da, und obwohl man sie nicht verdächtigen konnte, dem christlichen Glauben nachzuhängen, haben sie irgendwie gebetet.

Die Box soll noch irgendwo im Keller jenes Hauses an der King Georg Strasse stehen, die andere aber, die metaphorische, nahm mein Vater damals, packte die Sehnsucht, das Heimweh, die Deutsche Sprache (die er nicht spricht obwohl er jedes Wort, was ich sage, versteht) und die Kaffee-und-Kuchen Nachmittage, die Heinrich Heine Bänder, den Hut und das Gehstock meines Großvaters, legte sie behutsam zu den LPs von der Matthäus Passion, und klappte die Box zu. Er wusste vielleicht nicht, was er damit anfangen soll – er hatte vielleicht das Gefühl, die israelischen Sandalen und die Uniformen von den "Mezada" Pfadfindern die er stets trug, die so sehr von HIER waren und so wenig von DORT, könnten diese Box beschmutzen.

Aber jedes Mal, wenn die Jerusalemer Hitze wieder mal unerträglich wurde, wenn ein Schwarze Haiie uns bei der Schlange im Supermarkt wieder überholte, oder eben an jenen goldenen Freitagnachmittagen, lächelte mich mein Vater an und erzählte mir von dieser Box.

Für ein Kind wie mich hörte sich Deutschland wie ein Märchenland an. Ruhige, höfliche Menschen, die mit ihren Kindern ständig irgendwelche Konzerte besuchen, Bäckereien mit traumhaften Kuchen, und eine unvorstellbare Kultur, getragen in der kühlen Luft der Alpen. Vielleicht wollte er mich mit diesen Klischees trösten, mich vor einem harten Land und vor harten Menschen beschützen, ohne es zu merken aber pflanzte er in mir den Keim der Sehnsucht, des Heimwehs, jenes Heimweh das in meiner Familie stets von den göttlichen Klängen der Matthäus Passion begleitet wird. Diese Geschichten, diese Sehnsucht nach einem Land wo alles immer "in Ordnung" ist, lies meinen Vater als einziger wahrer Israeli da stehen, zwischen seinem Vater der seine Heimat nie vergas und seinem Sohn, mir, der sich nach einem Land sehnte das er nie kannte.

Liebe Grüße aus Jerusalem,

Euer Ofer

p.s. ich verspreche es Euch, über die Lesung von gestern zu schreiben, nun muss ich zum Dienst, die Kunst ruft…

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