Samstag, 17. April 2010

Israelisches Tagebuch 25

Diese Woche kann man als die ultimative israelische Nationalwoche beschreiben. Innerhalb von acht Tagen erlebt die israelische Kollektivseele eine turbulente Reise, vom Gedenktag für die Opfer des Holocausts, durch den Gedenktag für die gefallenen Soldaten, hindurch zu dem Unabhängigkeitstag.

Es ist schon etwas länger her, seitdem ich das letzte Mal diese emotionale Achterbahn Israels mitgemacht habe. In Deutschland gibt es wenig Verlangen danach, sich gemeinsam zu erinnern wieso man in diesem Land lebt und was alles passieren musste sodass man hier ist. Man ist einfach da, es ist eine Tatsache der Natur, Deutschland gehörte ja den Deutschen, oder ihren Vorfahren, seit den Tagen an denen sie (die Vorfahren) Mammuts hinterher gelaufen sind. Ihr habt ja keinen 2000 jährigen Spaziergang durch die Welt gemacht, oder wie Moritz Bleibtreu es fabelhaft formuliert hat, als er von Lucas Gregorowicz in dem Film "Lammbock" gefragt wird, ob er nie Angst hat dass er hier nie wegkommt. "Wieso? Ist doch schön hier!". Hätte er das den Juden um 72 A.D. gesagt, hätten wir einige Probleme weniger gehabt.

Am letzten Montag, also am Holocaustgedenktag, stand ich in der Küche und habe den Abwasch gemacht. Das Fenster stand offen, und ich genoss die kühle Brise während ich Hummus-Überreste von den Tellern abwischte. Auf einmal hörte ich eine Sirene. Ich meine keine Polizeisirene, sondern eine echte, bluteinfrierende Kriegssirene. Ich war in meinen Gedanken zu meiner Kindheit, zu den Tagen des Golfkriegs als die irakischen Raketen uns auf den Kopf geflogen sind, zurückgekehrt. (Übrigens, darüber könnte man auch mal was schreiben – über das Klanggedächtnis. Ich saß einmal mit zwei Kollegen des Berliner Rundfunk Sinfonie Orchesters auf unser Konzert wartend, im Hotel in Prag. Auf einmal hörten wir aus der Stadt den Klang einer Explosion. Meine Kollegen, beide Ossis, sagten einstimmig "der Russe kommt". Ich dachte natürlich sofort an ein Selbstmordattentat.) Jedenfalls, nach wenigen Sekunden habe ich mich wieder besinnt – es war die Sirene zu den zwei Schweigeminuten, die man jedes Jahr den Opfern des Holocaust widmet. Das ganze Land steht still – die Autos bleiben mitten auf der Strasse stehen, im Radio und im Fernseher kommt auch nur diese Sirene, und das einzige was man dazu hört ist das Bellen der verwirrten Hunde und Eltern, die ihren Kindern erklären – "jetzt nicht reden, nicht lachen, jetzt muss man traurig sein."

Ihr fragt Euch vielleicht, wieso der Holocaustgedenktag bei uns so spät kommt. In Deutschland, wie übrigens in der ganzen Welt, gedenkt man den Opfern am Tag der Befreiung von Auschwitz, in Januar. Die israelische Regierung in den ersten Jahren brauchte aber eine andere Botschaft als "Die Russen haben uns hilflosen gerettet, die Hölle war vorbei." Also nahm man den Jahrestag des Aufstands des Warschauer Ghettos. Wie sehr wollte man in den ersten Jahren nach der Shoa Anzeichen von jüdischem Widerstand finden, den jungen Israelis zeigen – schaut, auch in den dunkelsten Stunden des jüdischen Volkes, gegen die unbesiegbare deutsche Macht, hat man gekämpft, ist man nicht wie Lämmer zum Schlachthaus gegangen. Es ist auch kein Zufall, dass dieser Gedenktag eine Woche vor dem Unabhängigkeitstag Israels platziert wurde. Für viele Menschen, Juden und Nicht-Juden, ist Israel die Antwort auf den Holocaust. Ich muss sagen, für mich ist aber die Shoa keine Frage.

Gestern haben wir an der Oper die dritte Vorstellung von der "Jüdin" gespielt. Ich stand draußen, um ein wenig Wärme von der Sonne zu bekommen. Neben mir stand ein Chorsänger, angekleidet wie ein Kardinal. Wir haben ein wenig über die Gedenktage und über Politik geredet, und wie alles in Israel so furchtbar kompliziert ist. "Zumindest ist diese Oper einfach", sagte er. "Juden gegen Christen, Christen gegen Juden, und ein verrückter Kapellmeister gegen alle." Er grinste mich an, drückte seine Zigarette aus, und ging zurück ins Theater.

Euch allen ein schönen Wochenende,

Euer Ofer

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