Ich feiere Weihnachten nicht.
"Gar nicht?" fragt 12-jährige Annemarie aus Berlin am Telefon (der wahre Name liegt bei der Redaktion…).
"Gar nicht."
"Gibt´s auch keine Bescherung?" fragt sie erschrocken.
"Nein, wieso sollte ich Geschenke bekommen am Geburtstag eines Anderen? Außerdem haben wir Chanukka. Chanukka ist schön, in Chanukka zünden wir jeden Tag eine Kerze mehr bis wir acht Kerzen in der…"
"Chanukkia!" unterbricht mich Annemarie, ihr Wissen in Sachen Judentum angebend.
"Genau, Chanukkia. Wir zünden acht Kerzen an in Andenken an eine Zeit, wo man wieder versucht hat uns kleinzukriegen und wir es nicht zugelassen haben." Ich merke, wie meine Brust vor Stolz schwillt. "Wir haben nämlich die bösen Griechen aus unserem Land vertrieben und Jerusalem gerettet."
"Die Griechen?"
Annemarie verunsichert mich leicht und zwingt mich zum Nachdenken. Waren es doch die Römer? Nein, gegen sie haben wir doch verloren. Die Babylonen? Auch nicht – sie haben uns aus Gnade gehen lassen, und mit auf den Weg die wunderbare Oper "Nabucco" gegeben. Also doch die Griechen.
"Komisch, ich hätte es den Griechen gar nicht zugetraut." Verständlicher Satz aus dem Munde eines kleinen deutschen Mädchens im Jahre 2012. "Und wieso hattet Ihr Streit mit den Griechen?" fragt meine kleine politisch-Interessierte weiter.
"Nun ja, sie wollten dass wir wie sie werden, dass wir ihre Götter anbeten, ihre Sprache annehmen, ihre Bräuche. Und das wollten wir nicht, also hat´s gekracht zwischen uns. Und wir haben eben gewonnen, zumindest bis die Römer kamen."
Ich verabschiede mich von Annemarie, lege auf, und drehe die Musik etwas lauter. Es ist Heiligabend und beim NDR (Internetradio...) gibt´s so herrliche Musik, laute Choräle mit dem Thomanerchor. Ori fragt mich nach den Plätzchen, die ich ihr versprochen habe. "Die müssen wir erst backen, liebste", sage ich, und suche nach Zimt für den Teig. "Welche Musik ist das Papa?" fragt Ori, die für eine zweijährige über einen überraschend ausgeprägten Musikgeschmack verfügt. Nun ja.
"Chanukkalieder."
Liebste Freunde, ich hoffe dass Ihr alle ein wunderbares Fest hattet. Ori, Gili und ich wünschen Euch ein wunderbares Jahr 2013, ein Jahr voller Frieden, Freude und Freunde.
Euer Ofer
Freitag, 28. Dezember 2012
Mittwoch, 21. November 2012
Israelisches Tagebuch 61 - Waffenstillstand
Liebe Freunde,
dies ist der letzte Eintrag
für die nächste Zeit. In den Nachrichten steht, dass ab 21:00 jerusalemer Ortszeit
eine Waffenruhe in Kraft treten wird.
Ein deutscher Freund schrieb
mir vor ein Paar Tage eine verzweifelte Mail. Er schrieb von der Kraftlosigkeit
der Worte. Vor der Sinnlosigkeit des ewigen Geredes um Israel, um Palästina. Es
kann gut sein, dass er Recht hat. Meine Worte, diese an Euch seit Donnerstag gerichteten
Worte haben – so habe ich vielen Reaktionen ablesen konnte – vielen das Gefühl
gegeben, einen unmittelbaren Zugang zu den Menschen hinter den Worten zu haben.
Also, hier ist so ein Zugang –
Heute fing eigentlich fast
normal an. Gili ging zum Kindergareten mit Ori, sie hatte ja "Kinder zum
Schutzraum Schleppen" Dienst, was zum Glück nicht in Anspruch genommen
werden musste. Ich fuhr zur Oper, wieder eine ermödende Wozzeck Probe. Da ich
kaum was zu spielen habe, las ich die ganze Zeit die Nachrichten, die alle auf
einen Waffenstillstand hindeuteten. Um Punkt zwölf hatten wir eine kurze Pause,
ich kaufte mir eine Tasse Kaffee und ging raus, um die Sonnenstrahlen zu
genießen.
Um 12:05 explodierte ein Bus
300 Meter von der Oper, auf der König Saul Allee.
Auf Einmal war die Welt wie ein
Ameisennest, auf das man einen Stein geschmießen hat. Polizei, Rettungs- und
Feuerwehrwagen, Syrenen, Rufe. Und das Wort, das man in dieser Stadt seit
Jahren nicht mehr gehört hat. Attentat. Eine Polizistin fuhr an uns vorbei und
rief uns zu – geht rein, wir haben den Terroristen noch nicht gefasst. Ich rief
meinen Bruder an, der ja normalerweise – wenn er nicht gerade als Reservist in
einem Loch im Süden Israels weilt – als Journalist arbeitet, um ihm von dem
Attentat zu berichten. Es war ganz schön laut um ihn, Amit, rief ich – so heißt
er -, hier ist gerade ein Bus explodiert. "Wir sind auf dem Weg nach
Süden," sagte er. "Wie meinst Du das?" Fragte ich. "Wie
soll ich es meinen?Nach Gaza. Also – Berlin oder Rom?".
Da konnte ich nicht mehr,
meine Beine haben gezittert, die Welt drehte sich um mich. Mein Bruder auf dem
weg nach Gaza, meine Tochter und meine schwangere Frau in der Reichweite von
Raketen, und in der Nase der ätzende Rauch von dem brennenden Bus. Und das
Gefühl der Ohnmacht, dass sogar der Boden, auf dem man steht, nicht mehr sicher
ist.
Ich wollte heute gar nicht
schreiben, ehrlich gesagt. Aber es ist gerade die Mail meines teueren Freundes,
die mich dazu gezwungen hat. Weil Worte das einzige sind, was ich zur Zeit
anbieten kann. Es kursierte rum um meine Einträge die Diskussion um die Frage
der Schuld und der Verantwortung. Das Wort "Verantwortung" auf
Hebräisch ist dem Wort "Haftung" identisch. Karl Jaspers schrieb –
"Ein Volk haftet für seine Staatlichkeit". Ich vergleiche den Fall,
auf den sich Jaspers bezog, nämlich Nazideutschland, nicht mit dem Fall Israels im Jahre 2012. Jedoch bleibt dieser
Satz immer richtig, für eine Diktatur, und erst recht für eine Demokratie. Auch
wenn ich die jetztige Regierung nicht gewählt habe, trage ich eine
Verantwortung für das, was in meinem Land geschieht, und für das, was mein Land
anrichtet.
Und diese Worte sind zur Zeit
meine stärkste, fähigste, und auch einzige Waffe. Diese Verbindung zu Euch. Dass
sie auf verschiedene Seiten verbreitet werden, eine andere israelische Stimme
verbreiten. Einen Zugang schaffen. Ich brauche diese Worte, weil ich mit dem
Gefühl der Ohnmacht nicht leben kann.
Waffenstillstand.
Danke für Eure Worte, Danke für Eure Unterstützung, Danke für das Weiterleiten.
Danke für den Zugang.
Seid alle lieb gegrüßt,
Bis zum nächsten Mal,
Euer Ofer
Dienstag, 20. November 2012
Israelisches Tagebuch 60
Liebe Freunde,
Jetzt geht das große Warten
auf die Waffenruhe los. Und wie es bei den letzten Runden mit Gaza war,
schießen sie und wir was das Zeug hält, um noch einen Punktsieg erklären zu
können. In den Städten und Dörfern um Gaza sind in den letzten Stunden über
hudert Raketen eingeschlagen, auch bei uns liegen die Nerven blank, man reagiert gereizt auf jedes Geräuch. Im Gaza Streifen fordert unsere Armee die
Einwohner, den Norden des Streifens zu verlassen, um nicht zum Schaden zu kommen
bei den nächsten, heftigen Stunden. Hier und dort sind Menschen ums Leben gekommen.
Seht Ihr – ich habe gerade
geschrieben, "unsere Armee".
Heute Nachmittag saß ich im
Taxi auf dem Weg nachhause. Der Fahrer war sehr gesprächig. "Der Neger im
Weißen Haus ist daran schuld," sagte er, die anderen Autos vor uns hupend.
"Der Bush – der hätte es uns erlaubt, den Streifen platt zu machen, diese
Hunde." Er machte das Radio etwas leiser und schaute mich im Rückspiegel
an, um sicher zu stellen dass ich ihm zuhöre. "Ich habe einen Sohn da
unten, Reservist," fuhr er fort, "Und meine große Tochter lebt in
Sderot." Er überholte irgendjemand mit einer rückartigen Bewegung, hupte,
und fluchte (auf Arabisch, natürlich, wie alle Israelis). Er schaute mich noch
einmal an, wahrscheinlich merkte er plötzlich dass ich nicht antworte, oder
dass ich ein wenig "feiner" angezogen bin, und dachte sich vielleicht
– das ist sicherlich einer von den blöden Linken die gegen den Krieg sind.
"Ich habe in Libanon gekämpft, weißt du." Versuchte er mich zu
besänftigen. "Ich kann mich an Libanon kaum erinnern," antworte ich,
"ich war erst drei."
Er freute sich jedoch
offensichtlich dass ich ihm antwortete, und bescherte mich mit Erzählungen über
seine Heldentaten. Der Mann hat offensichtlich Beirut allein erobert.
"Am Israeli Chai, motek,
am israel chai," sagte er als wir meine Straße erreichten, erleichtert
darüber, dass ich ihm doch Trinkgeld gab. "Das Volk Israel lebe, süßer,
das Volk Israel lebe."
Unsere Armee, wir. Das ist
sehr verführerisch, dieses Wir. Ganz Israel sitzt jetzt vor dem Fernseher, ich
ja auch, und bekommt eine konstante Dosis von Patriotismus, von der ewigen
israelischen Pathetik zu spüren. So wurde ich ja auch erzogen – Papa kämpfte in
´67, ´73, und alles was dazwischen kam. Mein Bruder verbrachte über ein Jahr in
Südlibanon, und als Reservist kämpfte er im Westjordanland. Ich wurde erzogen
mit "wir sind ein kleines Land, von Feinden umgeben", oder, "Nie
wieder wird ein Jude wehrlos in den Tod gehen". Ich bin mit dem Glauben
großgeworden, wir sind das moralischste Land der Erde, sowohl bei der
Entstehung wie auch seitdem, in jeder Handlung des Staates.
Heinz Bude unterschied mal
zwischen der DDR und der BRD mit dem sehr vortrefflichen Satz – die Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit war in der DDR auf Tragik basiert. In der BRD basierte
sie auf Ironie ("Die Ironische Nation"). Auf Israel trifft die erste
Satzhälfte genauso zu – ich bin in einem Land mit wahren Helden und wahren
Bösewichten gewachsen, das – genauso wie die DDR – sich als ewigen "Trotz"
versteht.
Und da spielt das
"Wir" eine immengroße Rolle, dieses Zusammenrücken, vor allem wenn
die Kanonen schießen. Und es ist nicht gerade einfach, sich diesem
"Wir" zu entziehen, eine Ironie
- also Distanz – davon zu entwickeln. Mein Vater, zum Beispiel, hat sich
ganz schön geärgert dass ich in dem ersten Eintrag über den jetzigen Krieg von
"Flucht" berichtet habe (so wie der Freund, den ich in dem nächsten Eintrag
erwähnt habe).
Aber man kann auch schnell in
die andere Richtung rutschen, und versuchen, es den "Europäern" recht
zu machen, also das schreiben und sagen was in Berlin oder London für genehm erklärt
wird. Applaus macht süchtig, ist verführerisch. Seid immer skeptisch wenn ein
Iraner, Ägypter oder Iraker – oder auch Israeli – plötzlich wie Claudia Roth
spricht. Nicht, dass das was sie – was wir – sagen nicht stimmt. Aber da man
sich von dem einen "Wir" verabschiedete, will man möglich schnell
beim anderen "Wir" – also bei Euch – aufgenommen werden. Ich habe es während
der letzten Woche versucht, diesem Balance-Akt, dieser doppelten Ironie,
gerecht zu werden.
Es ist schon spät, und gerade
hieß es in den Nachrichten – keine Waffenruhe, noch nicht. Gili, die auf jeden
Fall die Pragmatikerin zuhause stellt, ist gerade ins Bett gegangen nachdem sie
den "Dienst" beim Kindergarten mit den anderen Eltern geklärt hat.
Morgen ist sie dran – wir machen es so, dass immer zwei Erwachsene der
Kindergärtnerin zur Seite stehen. Sollte es zum Luftalarm kommen, nehmen sie
dann jeweils zwei Kinder – die Kindergärnterin nimmt eins, sie ist schon etwas
älter – und laufen runter zum Schutzraum.
Ich hoffe dass es sich morgen
als überflüßig herausstellt.
Seid alle lieb gegrüßt,
Euer Ofer
Montag, 19. November 2012
Israelisches Tagebuch 59
Liebe Freunde,
was hat es für einen Sinn,
wenn man sich ent-schuldigen möchte. Was ist es überhaupt, sich zu
entschuldigen. Ist es möglich? Ist es nötig? Wird eine solche Entschuldigung,
eine Bitte um Verzeihung, um eine Anerkennung des Willen, miteinander zu leben,
anerkannt?
Ein Freund hat geschrieben –
ich sollte nicht von "Frauen und Kinder" sprechen, da auch die Männer
leiden. Auch du, hat er geschrieben, leidest – mit deiner kleinen Tochter, mit
deiner Frau, die heute morgen, nachdem wir Ori in den Kindergarten geschickt
hat, plötzlich zu weinen anfing. Das stimmt, habe ich ihm geschrieben, jeder,
der in dieser Situation steckt, leidet. Was ist aber dieses Leiden im Vergleich
mit dem, was die Menschen im Gaza Streifen gerade durchmachen?
Ist das Wort
"Vergleich" hier aber überhaupt angebracht? Was interessiert es den
Mann in Gaza, der gerade die Leichen seiner Kinder aus den Trümmern eines aus
Versehen bombardierten Hauses trägt, dass Gili und ich Albträume haben? Lindern
meine Albträume seinen Schmerz? Nimmt sein Schmerz meinen Albträumen das
Schrecken weg?
Ich habe dem Freund
geschrieben – die Differenzierung ist ein Garant menschlichen Denkens.
Menschlichen Geistes. Ich hüte mich davor, mich in politische Diskussionen
einzubringen, weil sie hier keinen Platz haben. Nicht, weil Politik unwichtig
ist. Sondern weil meine Welt gerade ganz schön klein geworden ist – 90 mal 90
Sekunden klein – und ich schlicht damit überfordert bin, an die größeren
Zusammenhänge zu denken.
Was würde es auch bringen,
einen solchen morbiden Vergleich zu ziehen? Die vielen Menschen, die jetzt Tag
und Nacht in Facebook aktiv sind, mit Fotoshop Bilder von Kinderleichen
nebeneinander einreihen, oder die, die eine beinah göttliche Vorsehung in jeder
Bewegung eines heiligen jüdischen Kampfjets sehen, sind für mich Pornographiker
die keine Beachtung verdienen. Ich bin zu müde und aufgeschreckt für Propaganda
Kriege.
Und doch – die
Differenzierung muss gemacht werden. Und wo Leiden entsteht, das durch
menschliches Handeln verursacht wurde, entsteht auch Schuld. Ich habe keine
Rakete abgefeuert – die größte Mehrheit in Gaza aber ebenfalls nicht. Jedoch
zahlt diese Mehrheit einen wesentlich höheren Preis für das Versagen der
öffentlichen Systeme in unserer Region, für das Versagen meiner Regierung, der
Uno, der EU, der USA, der arabischen Liga. Und was man gerne vergisst – diese
Organisationen, Länder und Bündnisse, die übermenschlich groß zu sein scheinen,
bestehen nur und allein aus Menschen. Und diese Menschen tragen eine Schuld,
auch wenn mit vielen anderen Millionen geteilt. Und ich trage diese Schuld mit.
Bis jetzt habe ich, ehrlich
gesagt, meine Beiträge sehr sanft formuliert. Aber heute sind 12 Menschen aus
einer Familie in meinem Namen ums Leben gebracht. Ihr Leiden ist meine Schuld,
die durch mein eigenes Leiden nicht im Geringsten vermindert wird. Es kann auch
gesagt werden – auch durch dieses Bekenntniss, was mir für´s erste ein etwas
leichteres Gewissen verschafft, wird diese Schuld nicht getilgt. Das gleiche
gilt für diejenigen, die als Reaktion auf meinen Blog mich als "Hardliner
Israeli", als "Zyniker" beschimpft haben. Ob ich so bin – ich
hoffe nicht, ich versuche es nicht zu sein, aber das werden andere
wahrscheinlich anders sehen. Aber allein durch das Schimpfen wird die
Verantwortung derer, die mit uns Israelis tag und nacht schimpfen, auch nicht
für erfüllt erklärt. Nicht den Palästinensern gegenüber, auch nicht den
Menschen in Syrien, die – weil alle Medien auf "unseren" Schlagabtausch
konzentriert sind – von dem Assad Regime weiter massekriert werden. Was mein
Anliegen wiederum nicht um das Mindeste weniger wichtig macht.
Liebe Freunde, ich füge
diesem Beitrag einige Bilder zu, die ich heute in der Oper und in Tel Aviv gemacht
habe. Es sind Beweise für die Risse in meiner Realität.
Uns allen eine ruhige Nacht,
Euer Ofer
p.s. - wie gestern schon geschrieben - wenn Ihr das wichtig findet, teilt es bitte weiter.
p.s. - wie gestern schon geschrieben - wenn Ihr das wichtig findet, teilt es bitte weiter.
Zur Bühne; Zu den Tanzräumen; Zu den Solistenräumen; Zum Luftschutzbunker |
Der leere Rabin-Platz - nur die Tauben sind da |
Die leere Rotschildalle |
Ein öffentlicher Luftschutzbunker, sein Wächter im tiefen Schlaf |
Runter zum Schutzraum |
Ein leer stehender Spielplatz, um diese Uhrzeit meistens sehr voll |
Am Bühneneingang |
Zu den Proberäumen links; Zum Luftschutzraum rechts |
Sonntag, 18. November 2012
Israelisches Tagebuch 58
Liebe Freunde,
ich habe mir lang überlegt,
was ich heute schreiben soll. Anfangen werde ich wieder mit einem großen Dank
an Euch alle – die Einladungen fließen ununterbrochen an unsere Mailadressen,
sowie die Mutmachungen – und der Satz der sich dabei wiederholt – passt auf
Euch auf.
Aber was nun?
Wir sind wieder in Tel Aviv.
Gestern standen wir in einem ewigen Stau, da die wichtigste Nord-Süd Axe vom
Militär beansprucht wurde, um Truppen und Gerät schnell an den Gaza Streifen
bringen zu können. Wir sind an ihnen vorbei gefahren, sie tauchten immer wieder
aus der Dunkelheit auf – stille Stahlriesen auf LKWs, ihre Kanonen verhüllt,
die kryptischen Schriftzeichen die sie in Einheiten, Herkunft und Ziel
einteilen, an ihren Seiten mit grobem weissen Schrift geschmiert . Wie der Stau
sich bis nach Tel Aviv zog überkam mich ein mulmiges Gefühl – was würden wir
tun wenn dieses blöde Alarm jetzt wieder ertönt? Man fängt plötzlich an, in
Distanzen zu denken. Wie lange würden wir bis zu diesem Hauseingang, bis zu
dieser Brücke, bis zu dieser Raststätte brauchen?
Zum Glück sind ist es nicht
dazu gekommen, die Nacht war ebenfalls ruhig. Da unsere Kindergärtnerin sich
damit überfordert sah, ihren regelmäßigen Ablauf zu ändern, sagte sie – "es
kann kommen wer will, ich bin da. In den Schutzraum gehe ich aber nicht. Und
basta. Und rein statistisch gesehen wird hier sowieso nichts passieren."
Nun, ich mag Statistik nicht, vor allem wenn sie sich um die Treffquote von Kindergärten
und Raketen dreht. Und so ist Gili zuhause geblieben. Ich musste zur Probe, die
10:30 anfing.
10:30 gab die Oboe das
"A" zum einstimmen, 10:31 kam das Luftalarm. Am Anfang haben wir gar
nichts gehört, da jeder auf sein Instrument noch ein wenig rumgespielt hat, bis
ein Bühnentechniker seinen Kopf in unseren Proberaum steckte uns sagte – ihr solltet
vielleicht in den Schutzraum gehen. Wie ich Gili anrief, die sich mit Ori schon
im Bombenkeller unter unserem Haus befand – ich war selber im Treppenhaus -
haben wir die Explosion gehört. Die Rakete wurde, so haben wir später
erfahren, von der Luftabwehr in der Luft zerstört.
Ebenfalls wie bei der zweiten
Rakete auf Tel Aviv, vor anderthalb Stunden in etwa. Da waren wir schon alle
zuhause, diesmal nahm ich schon Schokokekse mit in den Schutzraum, was bei den Nachbarkindern gut
ankam. Ich glaube, für die Eltern nehme ich das nächste Mal Schnaps mit.
Gili ist mit Ori im
Badezimmer, und ich schreibe Euch diese Worte. Ich sehe den Schreck in ihren
Augen, die Müdigkeit, Ori eine gute Laune vorzuspielen. Ich merke die Spannung
in ihren Schultern, ich sehe, wie ihre Hand ihren Bauch weniger streichelt als
davor, vielleicht will sie nicht dass unser noch Ungeborenes von diesem Zustand
etwas mitbekommt, vielleicht will sie die Schwangerschaft von der Realität, bis
die Waffenruhe kommt, beschützen.
Ursprünglich wollte ich Euch
von den Reaktionen der Menschen aus der Umgebung berichten –
Von Gilis Mutter, die aus
angsvoller Muttersliebe nicht anderes sagen konnte als – "und zieh dich
immer schön an, auch im Schutzraum muss man eine gute Figur machen",
Von unserem Dirigenten, der
die Heldentat seines Vaters – der während eines Raketenangriffs im Golfkrieg
auf der Bühne blieb,und eine zitternde Bach Partita spielte – wiederholen möchte,
Von meiner Freundin in New
Jersey, die mir erst jetzt über ihren Schmerz und Leid während des Sturms in
den USA berichtet hat, um mir so ihre verzweifelte Teilnahme, ihre mitgespürte
Ohnmacht zu zeigen,
Von meiner Nachbarin, die zu
alt ist um in den Keller zu rennen – und so fand ich sie heute, oh Gott wie
sehr ich mich geschämt habe, in der Dunkelheit des Treppenhauses, vor ihrer Tür,
mit einer Decke auf den Schultern, "im Treppenhaus ist man sicher, sagten
sie im Radio, in den anderen Kriegen war es sowieso schlimmer, und wie geht es
Ori?",
Von der Angst, die wie ein
feiner Faden in den Worten meines Bruders der an der Grenze vor Gaza steht,
per SMS geschickt, verwoben ist.
Von dem Horror, wenn man von
den Toten in Gaza hört. Kinder und Frauen. Familien, die weder Schutzräume noch 90 Sekunden Vorwarnung haben.
Und jede Nacht gehen wir ins
Bett, das Fenster offen um das Alarm zu hören, und beim Aufwachen gilt der
erste Blick dem Handy – ist es schon vorbei?
Gute Nacht aus Tel Aviv,
Euer Ofer
p.s. es ehrt und freut mich, dass ihr
meine Worte weiterverbreitet.
Samstag, 17. November 2012
Israelisches Tagebuch 57
Liebe Freunde,
Und was ist mit Gaza?
Seit drei Tagen berichte ich
Euch über die vier Wände meiner Realität, und bekomme die wärmsten, schönsten
Reaktionen. Es ist um uns auch ruhig geworden, seitdem wir im Norden sind – aus
dem Fenster, aus dem ich schaue, sehe ich grüne Felder, Sonne, idyllische
Dorflandschaft. Nur das Drohnen der Kampfjets ist ein Hinweis auf die andere
Realität, die dort beginnt, wo die Reichweite der Kassam-, Silsal-, und
iranischen Fager Raketen anfängt. Und, eben auch, wo das Ziel der Maschinen,
die unweit von hier starten, liegt.
Die Frage, was im Gaza Streifen
passiert, ist keine intelektuelle. Sie beeinflußt aufs Engste was in Israel
passiert. Vorbei sind die Tage, an denen man auf den Straßen von Tel Aviv über
Krieg und Frieden hätte disskutieren können wie auf den Straßen von Berlin,
ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob die eigene Kindergärtnerin es
schafft mit Ori und vier anderen Kindern in 90 Sekunden in den Schutzkeller zu
gehen. An der Meinung – man nennt sie politisch – die man äußert, hängt jetzt
ein wahres Preisschild.
Also – was ist mit Gaza? Gibt
es einen Spalt in der doch immer so blinden Diskussion, zwischen "Israel
übt Kriegsverbrechen aus" und "Die Araber sind alle gewalttätig und
fanatisch"? Das weiss ich ehrlich gesagt nicht. Wie immer, werden
diejenigen die die Weisheit dahinter bezweifeln, einen führenden
Hamas-Aktivisten umzubringen, als Verräter gebrandmarkt. Dass der Mann ein, wie
man auf Hebräisch sagt, Sohn des Todes war – daran besteht keinen Zweifel. Aber
mit wem sollten wir denn sonst reden, gesetzten Falls, wir wollen überhaupt
reden? Haben unsere Anführer nicht alle ihre Laufbahn beim Militär angefangen?
Aber andererseits fragt man
sich auch – wieso, verdammt, schießen sie diese Raketen ununterbrochen nach
Israel? Und zwar immer auf Zivilisten gezielt? Sie leiden unter keiner
Besatzung, sie haben von Gaza aus eine offene Grenze nach Ägypten, den
schönsten Strand am Mittelmeer, Geld von den Golfstaaten – wieso opfern sie
alles auf um alle Paar Tage einige Raketen auf israelische Dörfer und Städte
abzufeueren?
Anscheinend sind die Feigen,
die Blinden, nicht nur auf unserer Seite an der Macht.
Zurück zu den vier Wänden.
Wieder schau ich aus dem Fenster, ein einsames Militärfahrzeug fährt vorbei.
Vielleicht ein Offizier, der noch etwas von zuhause nehmen will bevor er sich
bei seiner Einheit meldet. Mein Bruder wurde eingezogen, sowie Gilis Bruder
auch. Anscheinend brauchen sie keine Musiker, ich werde nicht einberufen. Sie
riefen meinen Bruder gestern an, während des Schabbat-Abendessens. Er solle
sich doch am nächsten Morgen persönlich an einem Sammelpunkt melden, seine
Waffe abholen, und mit einem Transport nach Süden fahren.
Mein Bruder wird in einem Monat
vierzig. Er hat zwei Kinder, und eine aus Italien stammende Frau, die gestern,
als die Hamas Raketen auf Jerusalem feuerten, zum ersten Mal in ihrem Leben ein
Luftalarm gehört hat.
Wir reisen jetzt zurück nach
Tel Aviv, wir wollen nachhause. Ich werde heute Abend den Schutzraum etwas
sauber machen und Proviant bereit stellen, für alle Fälle. Danach werde ich mit
den anderen Eltern von Oris Kindergarten sprechen um eine Lösung zu finden, wie
die Kindergärtnerin es schaffen kann, mit fünf Kindern in 90 Sekunden die vier
Etagen die den Kindergarten vom Schutzraum trennen herunterzurennen.
Liebe Grüße aus Israel,
Euer Ofer
Freitag, 16. November 2012
Israelisches Tagebuch56
Meine lieben Freunde,
ich bin von Euren zahlreichen
Reaktionen überwältigt. "Kommt doch zu uns", so lauten sie. Wie gerne
wäre ich jetzt mit Ori und Gili im Hochtaunus, in Nürnberg, Berlin, Brandenburg
oder Hamburg – weit weg von diesem Irrsinn.
Gestern Nacht, nachdem ich
Euch ein Paar Zeilen geschrieben habe, stand ich noch kurz am Fesnter. Das Haus
von Gilis Eltern liegt unweit von einem Stutzpunkt der israelischen Luftwaffe,
und alle Paar Minuten konnte man die drohnenden Motoren der Bomber hören, die
in ihrem Bauch, neben den klugen Bomben und schlauen Raketen, die Samen der
nächsten und übernächsten Gewaltrunde nach Gaza tragen.
Ein lieber israelischer und
deutsch lesender Freund war mit meinem Eintrag gestern nicht zufrieden. Er
schrieb – ich weiß nicht genau wieso, aber ich fand es unangenehmen diese Worte
zu lesen. Und dann fügte er hinzu – vielleicht weil sie auf Deutsch geschrieben
wurden.
Ich kann ihn gut verstehen. Zum
einen ist das Fliehen nach einer einzigen Begegnung mit dem Luftalarm oder mit
der darauf folgenden Explosion ziemlich feige, und ich schreibe es ganz und gar
ironiefrei. Was die Menschen im Süden Israels durchmachen ohne zu fliehen – das
ist wahrer Mut. Und die in Gaza können ja gar nicht fliehen. Zum Zweiten – das Wort
Flucht hat auf Deutsch einen starken Beigeschmack. Es ist sowohl schwierig,
weil man dem Ausland – also Euch – nicht zeigen will, wie lose unser Griff in
diesem Boden ist. Und – wie soll ich es schreiben – dieser Freund gehört einer
Generation an, die sich das Fliehen abgeschworen hat. Man ist genug auf Deutsch
geflohen, jetzt will man auf Hebräisch seßhaft werden.
Und doch. Und doch, dieses
Gefühl – mit Socken, Ori auf dem Arm, die Treppen runter, schnell, schnell, im
Kopf der Gedanke – das kann doch gar nicht wahr sein, was mache ich da, es
handelt sich sicherlich um einen Irrtum. Aber die Hände halten fest, der süße Kindesatem
ist in der Nase, und die Beine wissen – 90 Sekunden. So viel Zeit hat man
zwischen dem Luftalarm und dem Raketeneinschlag.
90 Sekunden. Los. Wo seid Ihr
gerade? Wo lest Ihr diesen Text? Über dem Savigny Platz in Berlin? Wie lang
braucht man um zu begreifen, aufzustehen, das Kind nehmen, runterrennen? Seid
Ihr in den Stimmzimmern in Nürnberg – da ist man sicher – aber wo ist die
Familie gerade? Seid Ihr am Spielplatz in Prenzlauer Berg – schaut um Euch
herum, was ist 90 Sekunden weit weg von Euch?
Also sind wir weg gefahren,
wie andere auch. Gestern, als ich den Koffer in das Auto steckte, sah ich zwei
alte Nachbarn, gebrächlich, leise, wie sie mit einer kleinen Tasche zum Auto
laufen. Ich schaute sie kurz an, wie still und gekrümmt sie an uns
vorbeigingen. Man wollte sich nicht direkt anschauen, man mied den direkten
Blickkontakt. Ehrenhaftigkeit sieht anderes aus, aber die alten Finger der
Frau, die in einem Wintermantel ihre Damentasche festhielten, ja ihr ganzes
Wesen war um dieses Damentasche gekrümmt, war das Menschlichste was es gibt.
Aus dem Nebenzimmer höre ich –
eine Rakete ist in Tel Aviv eingeschlagen. Gili steht an der Tür – wir bleiben
hier. Mal schauen, ich habe ja eine Wozzeck Probe am Sonntag. Ich mag diese
Musik nicht, und doch will ich eher an die Probe denken. Ich will nicht wieder
an den süßen Kindesatem in meiner Nase im Treppenhaus gestern denken.
Es ist meine Therapie, Euch
diese Worte schreiben zu können. Ich weiß um Eure Teilnahme. Ich weiß dass F. Seinen
neugeborenen Sohn jetzt in Berlin festhält und an uns denkt. Ich weiß dass B. In
Brandenburg das Gästezimmer freigemacht hat, so wie M. In Berlin oder im
Hochtaunus und viele andere auch. Ihr macht mich stark. Und ich bin Euch für
das Recht, dies an Euch schreiben zu dürfen sehr dankbar.
Wenn das vorbei ist, werde
ich mich hinsetzen und mir überlegen was zu tun ist. Das Recht, nichts zu tun,
ist mir in dem Moment aberkannt worden, in dem Gili, erschöpft, mir ihre Hand
gab und eingeschlafen ist. Man kann ja nicht immer fliehen.
Ich habe gestern geschrieben –
betet für den Frieden, hier und in Gaza. Ich glaube, es wird mehr als nur beten
nötig sein um die Regenschaft der Dummen in unserer Welt abzubrechen.
Seid alle lieb gegrüßt und
umarmt,
Euer Ofer
Israelisches Tagebuch 55
Liebe Freunde,
bis Gili das Wort ausgesprochen hat, habe ich selber es noch nicht wirklich begriffen. Ori, unsere Tochter, war in warmer Kleidung verpackt auf ihrem Arm, und ich, hinterher, zog einen großen Koffer, auf der einen Schulter das Horn, auf der anderen eine Tasche mit Windeln, Spielzeug, Bananen.
Wir fliehen.
Wortlos schnallen wir Oris Sicherheitsgurt fest, laden unsere Sachen in den kleinen Hyundai, und fahren los, schnell weg aus Tel Aviv, nach Norden. An der Ampel schaue ich in die anderen Autos. Wahrscheinlich sehen wir auch so aus, Papa blickt starr am Steuer und Mama schaut besorgt auf das Smartphone, auf der Rückbank Kinder die aus der Abendruhe gerissen und in das Auto gesetzt wurden um zu den Großeltern, Freunden, Bekannten zu fahren – Hauptsache schnell weg aus Tel Aviv. Die Ampel wird grün, ich merke wie fest meine Finger das Lenkrad halten. Ori will ihre Kinder-CD hören, und bald ist das kleine Auto voll mit süßen Kinderstimmen. "Komm zu uns kleines Flugzeug, nimm uns mit in den Himmel, wo wir unsere Taschen voll mit Sternen, mit Geschenken für die Kinder, packen werden." Auf der entgegengesetzten Spur fahren Militärfahrzeuge, beladen mit Panzern und Panzerwagen, gen Süden.
Eine Stunde vorher.
Eine Freundin von Gili war mit ihrem Sohn bei uns, eigentlich mag ich sie nicht so wirklich. Also bin ich in das Schlafzimmer gegangen und habe weiter an meinem Artikel für eine Konferenz gearbeitet. Ori kam hinterher, sie mag den Jungen anscheinend auch nicht so sehr. Sie wollte im Computer Bilder von Nilpferden sehen, sie liebt Nilpferde seitdem wir so ein Vieh im Berliner Zoo gesehen haben. "Noch eins!" kichert sie entzückt in meinen Armen. Gili schaut zu uns ins Zimmer, sie will auch mit uns zusammensein und sich nicht mehr um den Besuch kümmern. Ich lächle sie an und streichle ihren schon etwas größeren Bauch an. Ich lese ihre Lippen wie sie stumm sagt – bald gehen sie, dann komme ich – und wiedme mich weiter meinem Nilpferde-süchtigen Kind.
Kriegsyrene.
Ich denke gar nicht nach. Ich packe Ori, nehm den Schlüßel. Schau Gili an. Sie nimmt ihr Handy. Es fällt kein Wort. Die Freundin murmelt was, ich höre nicht hin, ich denke nur, was mache ich, das kann doch nicht sein. Ich renne aus der Wonung. Treppenhaus, Stimmen von Nachbarn. Hast du den schlüßel. Habe ich. Komm. Wir laufen die Treppen herunter. Ori sagt kein Wort, hält mich aber fest. Im Bombenkeller brennt schon Licht, ich sehe Ayala aus dem Erdgeschoss. Ihr großer Junge zittert am ganzen Körper. Ich lächele ihn an, Ori fängt an zu singen. Ich liebe mein Kind. Gilis Freundin, inzwischen auch unten mit ihrem Sohn angekommen, ist hysterisch. Ich schaue sie an, deute auf das kleine Nachbarskind, und bitte sie sich zu besinnen. Die Nachbarin weiß nicht wo ihr Mann bleibt, Gili gibt ihr ihr Handy. Er geht nicht ran.
War das eine Explosion?
Ein Nachbar tritt in den Bombenkeller hinein, er hat kein Blut im Gesicht. "Habt ihr das gehört?". Später wird sich herausstellen, die Stadt wurde zu dem Punkt nicht direkt getroffen, Erst später. Ich versuche, mit dem Nachbarskind ins Gespräch zu kommen, im von meinen Erfahrungen vom Golfkrieg, 1991, zu erzählen. Ich sehe in seinen Augen, er hört mir nicht zu. Ich sehe in seinen Augen, er hat Angst.
Die Syrene hört auf. Stille.
Was nun? Ich suche die restlichen Lichtschalter in dem großen, kahlen Raum. Ich schaue Gili an. Sie ist in Ordnung, ich glaube aber, sie kapiert nicht was sich hier abspielt. Ich auch nicht. Wir gehen zurück in die Wohnung. Ich packe mechanisch eine Tasche die ab heute die ganze Zeit voll und bereit neben der Tür stehen wird. Ich schmeiße darin alles mögliche. Wasser, Windeln, Bücher, Kaffe, Schockolade, Klamotten für Ori. Gili packt mich am Arm.
Wir fliehen.
Das Packen geht schnell zu, ruhig, effizient. Ori spielt und singt, ich rufe meine Schwester an, und wenn ich ihr sage – ich bin gerade mit Ori auf dem Arm in den Bombenkeller gerannt – fange ich an zu weinen, heftig. Ich fange mich aber schnell auf, schaue, dass Ori nichts davon mitbekommt. Gili sieht meine Rote Augen. Ich versuche sie anzulächeln, "sollen wir unsere Pässe nehmen," frage ich, "wir können ja nach Berlin fliegen." Ich schreibe schnell auf meine Facebookseite eine Zeile – die ersten Reaktionen kommen auch prompt. Ich bin stolz.
Und jetzt sitzen wir im Galiläa, bei Gilis Eltern. Es ist ruhig, Ori und Gili schlafen schon fest. Vielleicht war es feige zu fliehen, aber im Krieg, mit einem Kind auf dem Arm und einem im Bauch, ist Feigheit der wahre Mut. Es sind aber zwei Bilder, die ich nie im Leben vergessen werde. Wie ich mit Ori die Treppen runterrenne. Und wie Gili vor mir geht, ihr ganzer Körper um Ori gewölbt, der kleine helle Kindeskopf umgeben von den schweren, schwarzen Locken der Mutter, meiner Frau.
Und in diesen Stunden rede ich nicht von Politik, sondern biete Euch an – betet mit mir für alle Mütter, in Gaza und bei uns, die sich jetzt um ihre Kinder wölben, auf der Flucht. Wieder auf der Flucht.
Euer Ofer
bis Gili das Wort ausgesprochen hat, habe ich selber es noch nicht wirklich begriffen. Ori, unsere Tochter, war in warmer Kleidung verpackt auf ihrem Arm, und ich, hinterher, zog einen großen Koffer, auf der einen Schulter das Horn, auf der anderen eine Tasche mit Windeln, Spielzeug, Bananen.
Wir fliehen.
Wortlos schnallen wir Oris Sicherheitsgurt fest, laden unsere Sachen in den kleinen Hyundai, und fahren los, schnell weg aus Tel Aviv, nach Norden. An der Ampel schaue ich in die anderen Autos. Wahrscheinlich sehen wir auch so aus, Papa blickt starr am Steuer und Mama schaut besorgt auf das Smartphone, auf der Rückbank Kinder die aus der Abendruhe gerissen und in das Auto gesetzt wurden um zu den Großeltern, Freunden, Bekannten zu fahren – Hauptsache schnell weg aus Tel Aviv. Die Ampel wird grün, ich merke wie fest meine Finger das Lenkrad halten. Ori will ihre Kinder-CD hören, und bald ist das kleine Auto voll mit süßen Kinderstimmen. "Komm zu uns kleines Flugzeug, nimm uns mit in den Himmel, wo wir unsere Taschen voll mit Sternen, mit Geschenken für die Kinder, packen werden." Auf der entgegengesetzten Spur fahren Militärfahrzeuge, beladen mit Panzern und Panzerwagen, gen Süden.
Eine Stunde vorher.
Eine Freundin von Gili war mit ihrem Sohn bei uns, eigentlich mag ich sie nicht so wirklich. Also bin ich in das Schlafzimmer gegangen und habe weiter an meinem Artikel für eine Konferenz gearbeitet. Ori kam hinterher, sie mag den Jungen anscheinend auch nicht so sehr. Sie wollte im Computer Bilder von Nilpferden sehen, sie liebt Nilpferde seitdem wir so ein Vieh im Berliner Zoo gesehen haben. "Noch eins!" kichert sie entzückt in meinen Armen. Gili schaut zu uns ins Zimmer, sie will auch mit uns zusammensein und sich nicht mehr um den Besuch kümmern. Ich lächle sie an und streichle ihren schon etwas größeren Bauch an. Ich lese ihre Lippen wie sie stumm sagt – bald gehen sie, dann komme ich – und wiedme mich weiter meinem Nilpferde-süchtigen Kind.
Kriegsyrene.
Ich denke gar nicht nach. Ich packe Ori, nehm den Schlüßel. Schau Gili an. Sie nimmt ihr Handy. Es fällt kein Wort. Die Freundin murmelt was, ich höre nicht hin, ich denke nur, was mache ich, das kann doch nicht sein. Ich renne aus der Wonung. Treppenhaus, Stimmen von Nachbarn. Hast du den schlüßel. Habe ich. Komm. Wir laufen die Treppen herunter. Ori sagt kein Wort, hält mich aber fest. Im Bombenkeller brennt schon Licht, ich sehe Ayala aus dem Erdgeschoss. Ihr großer Junge zittert am ganzen Körper. Ich lächele ihn an, Ori fängt an zu singen. Ich liebe mein Kind. Gilis Freundin, inzwischen auch unten mit ihrem Sohn angekommen, ist hysterisch. Ich schaue sie an, deute auf das kleine Nachbarskind, und bitte sie sich zu besinnen. Die Nachbarin weiß nicht wo ihr Mann bleibt, Gili gibt ihr ihr Handy. Er geht nicht ran.
War das eine Explosion?
Ein Nachbar tritt in den Bombenkeller hinein, er hat kein Blut im Gesicht. "Habt ihr das gehört?". Später wird sich herausstellen, die Stadt wurde zu dem Punkt nicht direkt getroffen, Erst später. Ich versuche, mit dem Nachbarskind ins Gespräch zu kommen, im von meinen Erfahrungen vom Golfkrieg, 1991, zu erzählen. Ich sehe in seinen Augen, er hört mir nicht zu. Ich sehe in seinen Augen, er hat Angst.
Die Syrene hört auf. Stille.
Was nun? Ich suche die restlichen Lichtschalter in dem großen, kahlen Raum. Ich schaue Gili an. Sie ist in Ordnung, ich glaube aber, sie kapiert nicht was sich hier abspielt. Ich auch nicht. Wir gehen zurück in die Wohnung. Ich packe mechanisch eine Tasche die ab heute die ganze Zeit voll und bereit neben der Tür stehen wird. Ich schmeiße darin alles mögliche. Wasser, Windeln, Bücher, Kaffe, Schockolade, Klamotten für Ori. Gili packt mich am Arm.
Wir fliehen.
Das Packen geht schnell zu, ruhig, effizient. Ori spielt und singt, ich rufe meine Schwester an, und wenn ich ihr sage – ich bin gerade mit Ori auf dem Arm in den Bombenkeller gerannt – fange ich an zu weinen, heftig. Ich fange mich aber schnell auf, schaue, dass Ori nichts davon mitbekommt. Gili sieht meine Rote Augen. Ich versuche sie anzulächeln, "sollen wir unsere Pässe nehmen," frage ich, "wir können ja nach Berlin fliegen." Ich schreibe schnell auf meine Facebookseite eine Zeile – die ersten Reaktionen kommen auch prompt. Ich bin stolz.
Und jetzt sitzen wir im Galiläa, bei Gilis Eltern. Es ist ruhig, Ori und Gili schlafen schon fest. Vielleicht war es feige zu fliehen, aber im Krieg, mit einem Kind auf dem Arm und einem im Bauch, ist Feigheit der wahre Mut. Es sind aber zwei Bilder, die ich nie im Leben vergessen werde. Wie ich mit Ori die Treppen runterrenne. Und wie Gili vor mir geht, ihr ganzer Körper um Ori gewölbt, der kleine helle Kindeskopf umgeben von den schweren, schwarzen Locken der Mutter, meiner Frau.
Und in diesen Stunden rede ich nicht von Politik, sondern biete Euch an – betet mit mir für alle Mütter, in Gaza und bei uns, die sich jetzt um ihre Kinder wölben, auf der Flucht. Wieder auf der Flucht.
Euer Ofer
Donnerstag, 12. April 2012
Israelisches Tagebuch 54 - Zur Debatte über Günther Grass
Es ist als ob man in einem Theaterstück wäre, oder? Jeder hat sein "Part", jeder erfüllt das, was von ihm erwartet wird. Die Dummen sind dumm; die Aufgeschreckten sind aufgeschreckt; die zu drehenden Augen werden gedreht, alles schön pünktlich zur Sonntagsausgabe. Jedes Theaterstück hat aber auch sein Drehbuch, und ich dachte, es wäre an der Zeit es auch an die Öffentlichkeit zu tragen. Wer es jedoch nicht lesen mag, darf gerne zum letzten Teil des Eintrags überspringen.
---------------------------------------------------------------------------------------------------
"Tabubruch"
Teilnehmer:
Vorkünder
Greiser Poet
Mann auf dessen Fuß getreten wird
Seine Frau
Vorkünder: Meine Damen und Herren, liebe Gemeinde, sehr verehrter Herr Poet. (Er neigt sich fast ungemerkt, aber ganz stillvoll und höflich zu dem greisen Poeten, der mit dem Kopf, ebenfalls fast ungemerkt und sehr klassisch zurücknickt. Ein leises Seufzen kommt von der Bühne, der Vorkünder schaut kurz von dem in seiner Hand feierlich zitternden Papier hoch, lässt seinen Blick kurz auf dem stillen Saal ruhen, um ihn dann wieder zu senken und weiter zu lesen.)
Es sind bewegte, bewegene, ja – weltenbewegene Tage die wir jetzt erleben, man denke an die Grundsätze des Abendlandes, an die Urfragen unserer menschlichen Existenz, wir ja, die den Krieg erlebt haben, dann Frieden, aber dann wieder Krieg! (Er hebt einen zitternden Finger in die Luft) aber dann wieder, Gott sei Dank (er lässt den Finger sinken) wieder Frieden, und noch mal Krieg! (Er brüllt fast, eine fleischige Frau in der ersten Reihe wacht in einem aufgeschreckten Schnarchen auf) Aber jetzt, endlich, Frieden. Ja ja, Demokratie, meine Damen und Herren, Demokratie! (Erneut ertönt ein Seufzen von der Bühne, dieses Mal ein wenig lauter, der Vorkünder, offensichtlich überrascht, legt zuviel Luft in seine Stimme, die Demokratie droht fast zu zerbrechen, er räuspert kurz und fährt fort). Nun ja, also, wer wäre ja besser geeignet als – der Poet! Meine Damen und Herren! Darf ich bitten!
(Der greise Poet schaut in die stille Dunkelheit des Saals, rückt sich mit einem poetischen Schubs hoch vom Sessel und bewegt sich zum Mikrofon. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird geht an seiner Seite, ganz dicht, und kurz bevor der greise Poet seine endgültige Position erreicht stellt er seinen Fuß unter den des greisen Poeten. Der Letztere senkt dann den seinigen, worauf der Mann auf dessen Fuß getreten wird ein leises Stöhnen von sich gibt. Der greise Poet schaut ihn an, schaut runter auf seinen Fuß, hebt ihn hoch, will ihn woanders niederlassen, der Mann auf dessen Fuß getreten wird ist aber schneller und stellt seinen getretenen Fuß geschickt unter den des greisen Poeten, und stöhnt. Der greise Poet schaut ihn wieder an, dreht sich erneut zum Saal, rückt seine Brillen zurecht, und hustet höflich in seine Faust.)
Greiser Poet: Vielen Dank, es ist, nun ja, eine Ehre, für Sie, für mich. (Er brüllt urplötzlich) Schweigen! (Die fleischige Dame wacht erneut mit lautem Schnarchen auf, schaut kurz in den leeren Saal um sich, murmelt unverständliche Protestworte, stellt ihr Täschchen auf ihren Schoss, legt ihre Hände darauf, und schaut zur Bühne). Ich bin, meine Damen und Herren, heute morgen aufgewacht, und wusste – heute muss ein Tabu gebrochen werden!
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Aber mein Herr, sie stehen auf meinem Fuß, können wir uns bitte kurz damit befassen?
Greiser Poet: Hmmm was? Ach ja. Sehen Sie nicht dass ich gerade dabei bin, ein Tabu zu brechen?
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Das habe ich schon gemerkt, aber Sie verstehen, mein Fuß, wenn man schon vom Brechen spricht, schmerzt schon ein wenig…
Greiser Poet: Das ist nicht meine Sache, ich bin ein Poet, und Sie, wissen Sie überhaupt was ein Tabu ist?
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Aber mein Herr, ich verbitte mir diesen Ton, nur weil ich in diesem Stück als Mann auf dessen Fuß getreten wird bezeichnet bin heißt nicht, dass ich ignorant bin, was wissen Sie schon, vielleicht bin ich ein Professor der Germanistik, und da weiß man wohl was ein Tabu sei.
Greiser Poet: Sind Sie Professor der Germanistik?
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Das tut nichts zur Sache. Ich spüre meine Zehen nicht mehr.
Greiser Poet: Was sind Ihre Zehen im Vergleich mit dem kurz vorm Brechen stehenden Tabu?
(Der Vorkünder erhebt sich halb von seinem Platz, versucht den Mann auf dessen Fuß getreten wird an sich zu ziehen, es misslingt ihm da der Fuß des Mannes unter dem des greisen Poeten steht, er setzt sich wieder und schaut hilflos um sich)
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Nun gut, Sie haben eine Minute um Ihr Tabu zu brechen, dann aber widmen wir uns meinem Fuß. Und dabei bin ich äußerst Großzügig und liberal.
Greiser Poet: Ich danke Ihnen. Nun ja. (Wieder wird seine Stimme ganz laut, fast schreiend) U-Boote! (Die fleischige Dame im Publikum hebt ihre Hand und winkt dem greisen Poeten zu. Er versucht, an ihr vorbeizuschauen, da aber außer ihr kein Mensch im Saal sitzt fragt er sie offensichtlich irritiert) Ja, was ist denn?
Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Können Sie bitte ein wenig leiser sprechen? Man hört Sie auch so gut genug, und wenn wir schon dabei sind, wieso stehen Sie eigentlich auf dem Fuß meines Mannes?
(Der greise Poet schaut wieder auf den unter seinem Fuß getretenen Fuß, versucht erneut seinen Fuß zu heben und schnell an eine andere Stelle zu bringen. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird ist aber schneller, und da der Poet in seiner Hastigkeit seinen Fuß ganz schnell senkt und mit voller Kraft den getretenen Fuß erwischt, entkommt dem Munde des Mannes auf dessen Fuß getreten wird ein kurzer Schrei, wobei er versucht, den greisen Poeten mit einem Lächeln anzuschauen. Dabei ist der Schmerz auf seinem Gesicht gut erkennbar.)
Greiser Poet: Das ist Ihr Mann?
Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Sie hätten schon vorher verstehen sollen, dass nicht jeder immer das sei, was anstelle seines Namens im Drehbuch steht.
(Der greise Poet wirkt ein wenig verloren. Er schaut nach hinten zum Vorkünder, dreht sich zurück zum leeren Saal.)
Greiser Poet: Ja, also, wie gesagt, ich breche das Tabu und dann können wir alle gehen. (er schaut zum Mann auf dessen Fuß getreten wird, der seinem Blick ermunternd erwidert. Er dreht sich zurück zum Saal, holt tief Luft) Verehrtes Publikum, lieber Vorkünder, Freunde. Nun. (Kurze Pause) Es gibt auch nette Deutsche!
Der Vorkünder (springt von seinem Platz und applaudiert euphorisch): Bravo! Wunderbar! Wie vortrefflich!
Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Sehen Sie. War doch nicht so schwer. (Steht auf, und sagt zu ihrem Mann) Kommst Du?
(Der Mann auf dessen Fuß getreten wird will gehen, sein Fuß steht aber noch unter dem des greisen Poeten. Er versucht ihn ein Paar Mal zu ziehen. Der greise Poet, der von der ganzen Angelegenheit tief erschüttert zu sein scheint, merkt anfangs nichts)
Der Mann auf dessen Fuß getreten wird: Dürfte ich?...
Greiser Poet: Oh ja, selbstverständlich, entschuldigen Sie bitte. (Hebt seinen Fuß vorsichtig. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird humpelt die Bühnentreppen herunter, und geht hinter seiner Frau aus dem Saal heraus. Licht aus.)
-Vorhang-
---------------------------------------------------------------------------------------------------
Was denke ich über die ganze Debatte um Günther Grass, haben viele Freunde gefragt. Was ich davon wohl zu halten vermag. Nun ja.
Mann kann Herrn Grass einiges nicht aberkennen. Er bleibt ein wahrer Künstler, ja ein Weltmeister in Sachen des Vergessenes, des Sich Erinnerns, oder gar des Verschweigens. Und um ehrlich zu sein, ist es mir viel lieber, er sagt endlich was er wirklich denkt und versucht es nicht erst durch den Mund seiner Oma oder seines Sohnes wie im "Im Krebsgang" zu sagen, das fand ich übrigens ziemlich feige. Aber die Äußerung eines wahrlich schon in die Jahre gekommenen Mannes, der seine Abneigung meines Landes gegenüber schon mehrmals zum Ausdruck gebracht hat, sind mir weniger wichtig. Was viel interessanter für mich ist, besteht aus dem wahnsinnigen Echo das seine Worte finden. Vielleicht habe ich deshalb dieses kurze Drehbuch geschrieben. Wer die Figuren sind – da bin ich selber nicht mehr sicher. Sind wir, Juden, so daran gewöhnt dass auf unsere Füße getreten wird dass wir dieses Treten schon selber suchen? Ist es die deutsche Öffentlichkeit? Wie Reflexhaft doch alle reagieren – wie ich schon geschrieben habe, die Dummen, die Aufgeschreckten, und so weiter und so fort. Und bei Dummen meine ich natürlich auch unseren aufgeklärten Innenminister, der Grass die Einreise verbieten will.
Ob ich glaube, Israel liege bei allem was es macht und tut richtig? Wer das behauptet, kennt mich nicht – und hat meinen Blog nie gelesen. Ihr entschuldigt mich dass ich hier aber nicht hinzufüge, "Auch ich glaube dass die Besatzung… und die Siedlungen…. Und die Kriegspläne…". Das ist, im Rahmen dieser Diskussion, unter meiner Würde.
Aber eine Sache ist doch etwas beunruhigend, muss ich gestehen.
Diese Woche ist die 10,000 Tote Marke in Syrien gebrochen worden. In Japan kämpfen Tausende um die Trümmer ihres Lebens, die der Tsunami hinterlassen hat. Russland erklärt, sein Militär wieder "einer Großmacht würdig" zu gestalten, und in Europa droht eins der schönsten Projekte die die Menschheit seit Jahrhunderten geschaffen hat, die Europäische Union, an Visionslosigkeit und politischer Feigheit zu zerbrechen. Und der Herr Grass, und dabei kann es auch ein Herr Müller oder Herr Möllemann oder Herr Schlag-mich-tot (oder vielleicht doch nicht) sieht sich genötigt, die Welt nicht vergessen zu lassen dass wir die Wurzel allen Übels sind.
Das ist das Schöne an Israel. Es kann wahrlich alle Vorurteile auf sich nehmen. Wer zu spät geboren ist, um ´68 gegen den Kolonialismus zu kämpfen, darf es gerne auf unsere Kosten nachholen. Die Jubelperser liefern wir Freihaus. Wer gegen Atommacht demonstrieren will – na bitte, davon haben wir ja auch eine ganze Menge. Wer gegen Menschrechtsverletzung kämpfen will, sollte wirklich nur zu uns kommen. Es ist ja viel bequemer und sicherer in Tel Aviv zu demonstrieren, als in Damaskus, Kairo oder Katar. Prinzipien hin oder her, man will doch auch heile nachhause kommen. Ob und in wiefern es den "Weltfrieden" fördert oder die Debatte darüber bereichert - naja, darum geht es wahrscheinlich gar nicht.
Nur, Herr Grass, eine kleine Korrektur – wir haben wirklich nie gesagt, wir wollen die Iraner auslöschen. Würde zwar zu uns passen, was sind ein Paar Muslime im Vergleich zum Sohn Gottes, aber es sind ehr die Führer des Irans die uns gerne von der Weltkarte verschwinden lassen wollen. Aber wir sind gerne auch für Sie da, Herr Grass, und stehen als die Moralwaschmaschine der Welt bereit. Schmeißen Sie ihre braunbefleckten Erinnerung herein, und sie werden strahlend weiß, wie die Haut einer jungen Zwiebel, wieder herauskommen.
Ofer
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"Tabubruch"
Teilnehmer:
Vorkünder
Greiser Poet
Mann auf dessen Fuß getreten wird
Seine Frau
Vorkünder: Meine Damen und Herren, liebe Gemeinde, sehr verehrter Herr Poet. (Er neigt sich fast ungemerkt, aber ganz stillvoll und höflich zu dem greisen Poeten, der mit dem Kopf, ebenfalls fast ungemerkt und sehr klassisch zurücknickt. Ein leises Seufzen kommt von der Bühne, der Vorkünder schaut kurz von dem in seiner Hand feierlich zitternden Papier hoch, lässt seinen Blick kurz auf dem stillen Saal ruhen, um ihn dann wieder zu senken und weiter zu lesen.)
Es sind bewegte, bewegene, ja – weltenbewegene Tage die wir jetzt erleben, man denke an die Grundsätze des Abendlandes, an die Urfragen unserer menschlichen Existenz, wir ja, die den Krieg erlebt haben, dann Frieden, aber dann wieder Krieg! (Er hebt einen zitternden Finger in die Luft) aber dann wieder, Gott sei Dank (er lässt den Finger sinken) wieder Frieden, und noch mal Krieg! (Er brüllt fast, eine fleischige Frau in der ersten Reihe wacht in einem aufgeschreckten Schnarchen auf) Aber jetzt, endlich, Frieden. Ja ja, Demokratie, meine Damen und Herren, Demokratie! (Erneut ertönt ein Seufzen von der Bühne, dieses Mal ein wenig lauter, der Vorkünder, offensichtlich überrascht, legt zuviel Luft in seine Stimme, die Demokratie droht fast zu zerbrechen, er räuspert kurz und fährt fort). Nun ja, also, wer wäre ja besser geeignet als – der Poet! Meine Damen und Herren! Darf ich bitten!
(Der greise Poet schaut in die stille Dunkelheit des Saals, rückt sich mit einem poetischen Schubs hoch vom Sessel und bewegt sich zum Mikrofon. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird geht an seiner Seite, ganz dicht, und kurz bevor der greise Poet seine endgültige Position erreicht stellt er seinen Fuß unter den des greisen Poeten. Der Letztere senkt dann den seinigen, worauf der Mann auf dessen Fuß getreten wird ein leises Stöhnen von sich gibt. Der greise Poet schaut ihn an, schaut runter auf seinen Fuß, hebt ihn hoch, will ihn woanders niederlassen, der Mann auf dessen Fuß getreten wird ist aber schneller und stellt seinen getretenen Fuß geschickt unter den des greisen Poeten, und stöhnt. Der greise Poet schaut ihn wieder an, dreht sich erneut zum Saal, rückt seine Brillen zurecht, und hustet höflich in seine Faust.)
Greiser Poet: Vielen Dank, es ist, nun ja, eine Ehre, für Sie, für mich. (Er brüllt urplötzlich) Schweigen! (Die fleischige Dame wacht erneut mit lautem Schnarchen auf, schaut kurz in den leeren Saal um sich, murmelt unverständliche Protestworte, stellt ihr Täschchen auf ihren Schoss, legt ihre Hände darauf, und schaut zur Bühne). Ich bin, meine Damen und Herren, heute morgen aufgewacht, und wusste – heute muss ein Tabu gebrochen werden!
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Aber mein Herr, sie stehen auf meinem Fuß, können wir uns bitte kurz damit befassen?
Greiser Poet: Hmmm was? Ach ja. Sehen Sie nicht dass ich gerade dabei bin, ein Tabu zu brechen?
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Das habe ich schon gemerkt, aber Sie verstehen, mein Fuß, wenn man schon vom Brechen spricht, schmerzt schon ein wenig…
Greiser Poet: Das ist nicht meine Sache, ich bin ein Poet, und Sie, wissen Sie überhaupt was ein Tabu ist?
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Aber mein Herr, ich verbitte mir diesen Ton, nur weil ich in diesem Stück als Mann auf dessen Fuß getreten wird bezeichnet bin heißt nicht, dass ich ignorant bin, was wissen Sie schon, vielleicht bin ich ein Professor der Germanistik, und da weiß man wohl was ein Tabu sei.
Greiser Poet: Sind Sie Professor der Germanistik?
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Das tut nichts zur Sache. Ich spüre meine Zehen nicht mehr.
Greiser Poet: Was sind Ihre Zehen im Vergleich mit dem kurz vorm Brechen stehenden Tabu?
(Der Vorkünder erhebt sich halb von seinem Platz, versucht den Mann auf dessen Fuß getreten wird an sich zu ziehen, es misslingt ihm da der Fuß des Mannes unter dem des greisen Poeten steht, er setzt sich wieder und schaut hilflos um sich)
Mann auf dessen Fuß getreten wird: Nun gut, Sie haben eine Minute um Ihr Tabu zu brechen, dann aber widmen wir uns meinem Fuß. Und dabei bin ich äußerst Großzügig und liberal.
Greiser Poet: Ich danke Ihnen. Nun ja. (Wieder wird seine Stimme ganz laut, fast schreiend) U-Boote! (Die fleischige Dame im Publikum hebt ihre Hand und winkt dem greisen Poeten zu. Er versucht, an ihr vorbeizuschauen, da aber außer ihr kein Mensch im Saal sitzt fragt er sie offensichtlich irritiert) Ja, was ist denn?
Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Können Sie bitte ein wenig leiser sprechen? Man hört Sie auch so gut genug, und wenn wir schon dabei sind, wieso stehen Sie eigentlich auf dem Fuß meines Mannes?
(Der greise Poet schaut wieder auf den unter seinem Fuß getretenen Fuß, versucht erneut seinen Fuß zu heben und schnell an eine andere Stelle zu bringen. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird ist aber schneller, und da der Poet in seiner Hastigkeit seinen Fuß ganz schnell senkt und mit voller Kraft den getretenen Fuß erwischt, entkommt dem Munde des Mannes auf dessen Fuß getreten wird ein kurzer Schrei, wobei er versucht, den greisen Poeten mit einem Lächeln anzuschauen. Dabei ist der Schmerz auf seinem Gesicht gut erkennbar.)
Greiser Poet: Das ist Ihr Mann?
Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Sie hätten schon vorher verstehen sollen, dass nicht jeder immer das sei, was anstelle seines Namens im Drehbuch steht.
(Der greise Poet wirkt ein wenig verloren. Er schaut nach hinten zum Vorkünder, dreht sich zurück zum leeren Saal.)
Greiser Poet: Ja, also, wie gesagt, ich breche das Tabu und dann können wir alle gehen. (er schaut zum Mann auf dessen Fuß getreten wird, der seinem Blick ermunternd erwidert. Er dreht sich zurück zum Saal, holt tief Luft) Verehrtes Publikum, lieber Vorkünder, Freunde. Nun. (Kurze Pause) Es gibt auch nette Deutsche!
Der Vorkünder (springt von seinem Platz und applaudiert euphorisch): Bravo! Wunderbar! Wie vortrefflich!
Die Frau des Mannes auf dessen Fuß getreten wird: Sehen Sie. War doch nicht so schwer. (Steht auf, und sagt zu ihrem Mann) Kommst Du?
(Der Mann auf dessen Fuß getreten wird will gehen, sein Fuß steht aber noch unter dem des greisen Poeten. Er versucht ihn ein Paar Mal zu ziehen. Der greise Poet, der von der ganzen Angelegenheit tief erschüttert zu sein scheint, merkt anfangs nichts)
Der Mann auf dessen Fuß getreten wird: Dürfte ich?...
Greiser Poet: Oh ja, selbstverständlich, entschuldigen Sie bitte. (Hebt seinen Fuß vorsichtig. Der Mann auf dessen Fuß getreten wird humpelt die Bühnentreppen herunter, und geht hinter seiner Frau aus dem Saal heraus. Licht aus.)
-Vorhang-
---------------------------------------------------------------------------------------------------
Was denke ich über die ganze Debatte um Günther Grass, haben viele Freunde gefragt. Was ich davon wohl zu halten vermag. Nun ja.
Mann kann Herrn Grass einiges nicht aberkennen. Er bleibt ein wahrer Künstler, ja ein Weltmeister in Sachen des Vergessenes, des Sich Erinnerns, oder gar des Verschweigens. Und um ehrlich zu sein, ist es mir viel lieber, er sagt endlich was er wirklich denkt und versucht es nicht erst durch den Mund seiner Oma oder seines Sohnes wie im "Im Krebsgang" zu sagen, das fand ich übrigens ziemlich feige. Aber die Äußerung eines wahrlich schon in die Jahre gekommenen Mannes, der seine Abneigung meines Landes gegenüber schon mehrmals zum Ausdruck gebracht hat, sind mir weniger wichtig. Was viel interessanter für mich ist, besteht aus dem wahnsinnigen Echo das seine Worte finden. Vielleicht habe ich deshalb dieses kurze Drehbuch geschrieben. Wer die Figuren sind – da bin ich selber nicht mehr sicher. Sind wir, Juden, so daran gewöhnt dass auf unsere Füße getreten wird dass wir dieses Treten schon selber suchen? Ist es die deutsche Öffentlichkeit? Wie Reflexhaft doch alle reagieren – wie ich schon geschrieben habe, die Dummen, die Aufgeschreckten, und so weiter und so fort. Und bei Dummen meine ich natürlich auch unseren aufgeklärten Innenminister, der Grass die Einreise verbieten will.
Ob ich glaube, Israel liege bei allem was es macht und tut richtig? Wer das behauptet, kennt mich nicht – und hat meinen Blog nie gelesen. Ihr entschuldigt mich dass ich hier aber nicht hinzufüge, "Auch ich glaube dass die Besatzung… und die Siedlungen…. Und die Kriegspläne…". Das ist, im Rahmen dieser Diskussion, unter meiner Würde.
Aber eine Sache ist doch etwas beunruhigend, muss ich gestehen.
Diese Woche ist die 10,000 Tote Marke in Syrien gebrochen worden. In Japan kämpfen Tausende um die Trümmer ihres Lebens, die der Tsunami hinterlassen hat. Russland erklärt, sein Militär wieder "einer Großmacht würdig" zu gestalten, und in Europa droht eins der schönsten Projekte die die Menschheit seit Jahrhunderten geschaffen hat, die Europäische Union, an Visionslosigkeit und politischer Feigheit zu zerbrechen. Und der Herr Grass, und dabei kann es auch ein Herr Müller oder Herr Möllemann oder Herr Schlag-mich-tot (oder vielleicht doch nicht) sieht sich genötigt, die Welt nicht vergessen zu lassen dass wir die Wurzel allen Übels sind.
Das ist das Schöne an Israel. Es kann wahrlich alle Vorurteile auf sich nehmen. Wer zu spät geboren ist, um ´68 gegen den Kolonialismus zu kämpfen, darf es gerne auf unsere Kosten nachholen. Die Jubelperser liefern wir Freihaus. Wer gegen Atommacht demonstrieren will – na bitte, davon haben wir ja auch eine ganze Menge. Wer gegen Menschrechtsverletzung kämpfen will, sollte wirklich nur zu uns kommen. Es ist ja viel bequemer und sicherer in Tel Aviv zu demonstrieren, als in Damaskus, Kairo oder Katar. Prinzipien hin oder her, man will doch auch heile nachhause kommen. Ob und in wiefern es den "Weltfrieden" fördert oder die Debatte darüber bereichert - naja, darum geht es wahrscheinlich gar nicht.
Nur, Herr Grass, eine kleine Korrektur – wir haben wirklich nie gesagt, wir wollen die Iraner auslöschen. Würde zwar zu uns passen, was sind ein Paar Muslime im Vergleich zum Sohn Gottes, aber es sind ehr die Führer des Irans die uns gerne von der Weltkarte verschwinden lassen wollen. Aber wir sind gerne auch für Sie da, Herr Grass, und stehen als die Moralwaschmaschine der Welt bereit. Schmeißen Sie ihre braunbefleckten Erinnerung herein, und sie werden strahlend weiß, wie die Haut einer jungen Zwiebel, wieder herauskommen.
Ofer
Mittwoch, 21. März 2012
Israelisches Tagebuch 53
Nachtgedanken
Ich sitze im Auto an der Ampel vor der Oper, heute gibt es "Lucia di Lammermoor", im Radio knistern Lieder die ich nicht erkenne. Der Himmel ist gelb-braun, die Wettervorhersage hat wieder versagt, ich denke an die Wäsche die im gelben Wind vor unserem Balkon flattert, Hamsin heißt dieser Wind bei uns, wieder ein von den Arabern geklautes Wort, Hamsin, Sirocco heißt er bei den Franzosen, glaube ich, dieser hinterhältige Wind der plötzlich aus dem Süden kommt – Föhn heißt er bei Euch, oder? – der Sand und Staub aus der Wüste mitbringt.
"Liebe Grüße aus Saudi Arabien", frohlockt mein Kollege, ich knirsche mit den Zähnen im vergeblichen Versuch, den Sand dazwischen loszuwerden. Jeder Atemzug fällt schwer, die Sänger auf der Bühne kämpfen nach Luft, und die alten Damen im Publikum husten höflich, um sich entschuldigend blickend, in bestickte Taschentücher.
"Hamsin", sagt Leon, unser russischer Bühnenarbeiter, mit schwerem Akzent, und ich denke mir – vielleicht ist es nicht mehr wichtig dass wir dieses Wort von den Arabern geklaut haben, wenn russische Bühnenarbeiter es selbstverständlich aus einem trockenen Gesicht ausspucken.
"Edgardo," stöhnt Lucia auf der Bühne, ich laufe mit dem Finger übers Horn und betrachte die feine Staubschicht die sich darauf gebildet hat, liebe Grüße aus der Wüste, an wen sind aber diese Grüße gerichtet, der Staub wandert weiter, dämmt den Glanz auf der goldenen Kuppel der Al-Aksa Moschee, besänftigt die Dornen des Stacheldrahtzauns an unseren Grenzen, verdickt und verdreckt das Blut der Verwundeten und Toten auf den Straßen von Homs und Daraa in Syrien.
Lucia stirbt, Edgardo ebenfalls, ich ziehe mich schnell um und renne zum Auto, bloß nicht zu tief einatmen. Der Himmel ist jetzt schwarz und vor dessen Hintergrund, direkt hinter der Oper, schimmern die Lichter des Hauptquartiers der israelischen Armee, wer weiß, denke ich, vielleicht hat der Staub die Kriegspläne unserer Generäle dort oben in ihren Hightech Büros bedeckt, vielleicht nahm er, der Staub, eine überraschende Kehrtwende gen Osten und hat die iranischen Urananreicherungsanlagen in Isfahan und Bushhar außer betrieb gesetzt. Der Verkehr ist ruhig um diese Zeit, und ich denke an ein Zitat von Max Frisch aus dem zerbombten Berlin, "Ein Hügelland von Backsteinen, darunter die Verschütteten, darüber die Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die "Iphigenie". Da war es aber schon die Stunde null. Bei uns ist erst – oder schon? - die neunzigste Minute.
Es ist Ende März, und es wird mir klar, während ich im Garten die Wäsche abschüttele, dass der nächste Regen der das ganze hier wegspülen soll erst in Oktober kommt, und wer weiß, wer weiß, was er bis dahin noch alles wegzuspülen haben wird.
Gute Nacht aus Tel Aviv,
Euer Ofer
Ich sitze im Auto an der Ampel vor der Oper, heute gibt es "Lucia di Lammermoor", im Radio knistern Lieder die ich nicht erkenne. Der Himmel ist gelb-braun, die Wettervorhersage hat wieder versagt, ich denke an die Wäsche die im gelben Wind vor unserem Balkon flattert, Hamsin heißt dieser Wind bei uns, wieder ein von den Arabern geklautes Wort, Hamsin, Sirocco heißt er bei den Franzosen, glaube ich, dieser hinterhältige Wind der plötzlich aus dem Süden kommt – Föhn heißt er bei Euch, oder? – der Sand und Staub aus der Wüste mitbringt.
"Liebe Grüße aus Saudi Arabien", frohlockt mein Kollege, ich knirsche mit den Zähnen im vergeblichen Versuch, den Sand dazwischen loszuwerden. Jeder Atemzug fällt schwer, die Sänger auf der Bühne kämpfen nach Luft, und die alten Damen im Publikum husten höflich, um sich entschuldigend blickend, in bestickte Taschentücher.
"Hamsin", sagt Leon, unser russischer Bühnenarbeiter, mit schwerem Akzent, und ich denke mir – vielleicht ist es nicht mehr wichtig dass wir dieses Wort von den Arabern geklaut haben, wenn russische Bühnenarbeiter es selbstverständlich aus einem trockenen Gesicht ausspucken.
"Edgardo," stöhnt Lucia auf der Bühne, ich laufe mit dem Finger übers Horn und betrachte die feine Staubschicht die sich darauf gebildet hat, liebe Grüße aus der Wüste, an wen sind aber diese Grüße gerichtet, der Staub wandert weiter, dämmt den Glanz auf der goldenen Kuppel der Al-Aksa Moschee, besänftigt die Dornen des Stacheldrahtzauns an unseren Grenzen, verdickt und verdreckt das Blut der Verwundeten und Toten auf den Straßen von Homs und Daraa in Syrien.
Lucia stirbt, Edgardo ebenfalls, ich ziehe mich schnell um und renne zum Auto, bloß nicht zu tief einatmen. Der Himmel ist jetzt schwarz und vor dessen Hintergrund, direkt hinter der Oper, schimmern die Lichter des Hauptquartiers der israelischen Armee, wer weiß, denke ich, vielleicht hat der Staub die Kriegspläne unserer Generäle dort oben in ihren Hightech Büros bedeckt, vielleicht nahm er, der Staub, eine überraschende Kehrtwende gen Osten und hat die iranischen Urananreicherungsanlagen in Isfahan und Bushhar außer betrieb gesetzt. Der Verkehr ist ruhig um diese Zeit, und ich denke an ein Zitat von Max Frisch aus dem zerbombten Berlin, "Ein Hügelland von Backsteinen, darunter die Verschütteten, darüber die Sterne; das Letzte, was sich da rührt, sind die Ratten. Abends in die "Iphigenie". Da war es aber schon die Stunde null. Bei uns ist erst – oder schon? - die neunzigste Minute.
Es ist Ende März, und es wird mir klar, während ich im Garten die Wäsche abschüttele, dass der nächste Regen der das ganze hier wegspülen soll erst in Oktober kommt, und wer weiß, wer weiß, was er bis dahin noch alles wegzuspülen haben wird.
Gute Nacht aus Tel Aviv,
Euer Ofer
Mittwoch, 7. März 2012
Israelisches Tagebuch 52
Liebe Freunde,
Ich verrate Euch ein kleines Geheimnis, Ihr müsst mir aber versprechen, mir nicht allzu sehr böse zu sein. Ich war nämlich letzte Woche für ein Paar Tage in München, und habe mich ja bei keinem gemeldet – mit einer guten Ausrede, allerdings. Es handelte sich um einen Forschungsbesuch zwecks meiner These, und ich war von früh bis spät im Archiv einer gewissen sudetendeutschen Organisation begraben, um Berge von Büchern und Akten zu lesen. Ich wäre liebend gerne zumindest nach Nürnberg gefahren, die Zeit war dafür einfach zu knapp. Soviel zu meiner guten Ausrede.
An einem Abend habe ich eine Karte für die bayerische Staatsoper bekommen, es gab meine geliebte "Butterfly", und so fand ich mich in einem See von gut gekleideten Münchnern und Münchnerinnen, das rollende "R" flog mir um die Ohren, und meine schicke neue H&M Kordjacke kam mir von wie ein gebrauchter Waschlappen aus dem 19ten Jahrhundert. Aber was tut man nicht für die Kunst!...
Die Vorstellung war wunderbar, das Bühnenbild traditionell und schön, und beim letzten Akt habe ich wie immer Tränen in den Augen gehabt. Bevor ich hier aber meine übertrieben romantische Seele auf Eure Bildschirme schmiere, erzähle ich Euch von einer wunderbaren Begegnung die ich direkt nach der Vorstellung hatte.
Ich wusste nämlich dass mein alter Freund aus Berliner Zeiten, S., eine Stelle im Staatsorchester hat. Und tatsächlich, als ich zum Orchester geschaut habe, sah ich sein unverkennbares Gesicht. Nur die Haare waren lediglich etwas ergraut. Nach dem Applaus habe ich mich dann so schnell wie möglich zum Bühneneingang begeben, um ihn zu erwarten.
Und tatsächlich – nach ein Paar Minuten – kam er raus. Er sah mich an, und blieb stehen, wie vom Blitz getroffen. "Ofer?!!" – er konnte es nicht glauben – "Was machst denn Du hier?". Man muss dazu sagen, wir haben uns seit ca. 8 Jahren nicht mehr gesehen, sodass die Überraschung durchaus berechtigt war. Er liest zwar ab und zu (na ja, wahrscheinlich mehr ab als zu) diesen Blog, aber wie Ihr wusste er nicht dass ich in die bayerische Hauptstadt komme. Wir sind dann ein Paar Biere trinken gegangen, und haben uns für den nächsten Abend wieder verabredet.
Und so kam es, dass wir am nächsten Tag in der Nähe des Max-Weber-Platzes, gemeinsam mit ein Paar anderen Kollegen aus Berliner Zeiten, das wunderbare helle bayerische Bier genossen haben. Wieso aber erzähle ich es Euch? Bis jetzt, muss ich gestehen, ist die Geschichte schön aber doch nicht so interessant. Es war das bei mir entstandene sonderliche Gefühl, das mich zum Beschreiben dieser Gegebenheit veranlasst.
Wie ich da saß, und mich mit S. und D. ausgetauscht habe, wie geht es jenem und was machen die und der, habe ich das Gefühl erwartet, dass ich immer beim Unterhalten mit Freunden aus Deutschland habe – Neid. Klingt hart, ich weiß, aber es entspricht der Wahrheit. Neid. Neid darüber, dass diese Freunde weiter in solchen Spitzenorchestern sitzen, mit den besten Kapellmeistern und Sängern, mit einem Gehalt das das Drei- bis Fünffache von meinem ist, mit einer (von ihnen oft unterschätzten) Ruhe, Ruhe im Leben, Ruhe im musikalischen Schaffen. Neid über das unbeschwerte Leben, darüber, dass sie zur Arbeit fahren können durch Strassen die gut und sicher sind, dass sie wissen, Ihr Arbeitsplatz ist bis zum Ende aller Zeiten sicher, und darüber, klingt ja fast schon makaber, dass ihr blöder Ministerpräsident nicht mit ihrem Leben gegen einen anderen blöden Iraner pokert, von wegen "schau wer die größere Rakete hat".
Aber er kam nicht, dieser Neid. Gar nicht. Es ist nicht so, dass alle von mir geführten Gründe keinen Bestand hätten. Haben sie ja auch. Bei Euch ist zurzeit die größte Gefahr, dass die FDP verschwindet, bei mir hier droht eher das gesamte Land zu verschwinden. Und doch – und doch saß ich da, und habe mich gefreut. Und war auch ein wenig stolz. Stolz darüber, dass ich trotz des schweren Umzugs nach Israel es geschafft habe, Kontakt zu meinen Freunden – zu Euch – zu behalten. Dass ich es hier geschafft habe, eine herzschmelzende Familie aufzubauen. Dass ich ein Studium gefunden habe, wo ich meine breiten Fachkenntnisse über Deutschland zum Ausdruck bringen kann. Dass es inzwischen viele Menschen gibt, die meine – diese – Worte gern lesen, sich darüber Gedanken machen, diese Worte an andere verschicken, darauf reagieren. Dass ich in einem Orchester sitze und meine Erfahrungen und das, was ich von meinen Freunden und Kollegen in Berlin und Nürnberg gelernt habe weitergeben kann. Ich blickte halt nicht mehr neidisch darauf, was S. und D. haben – obwohl ihr Leben durchaus beneidenswert ist – sondern war stolz, dass auch ich mal ein solches Leben geführt habe, ja, sogar mehr – dass ich mich so glücklich schätzen kann, dieses Leben einmal geführt zu haben. Ich hatte ja immer Angst, meine Verbindung zu Deutschland zu verlieren, dass die zehn Jahre die ich unter Euch verbracht habe keinen bleibenden Eindruck hinterlassen werden. Aber die Tatsache, dass ich das hier schreibe, dass Ihr das lest, die Tatsache, dass S. sich so gefreut mich wieder zu sehen und mich anerkannt hat (das ist ja das Wort, "Anerkennung"), dass M. aus dem Hochtaunus mit mir wieder den Kontakt aufgenommen hat, dass die Familie S. zu mir nach Israel kommt und Familie L. auch schon hier war, dass meine teuere M. mit ihrer Tochter uns auch bald besucht, und das, obwohl ich schon seit 2.5 Jahre nicht mehr in Deutschland lebe – ja Ihr merkt, ich könnte weiter und weiter schreiben, ich erwähne hier ja nur einen Bruchteil dessen, was ich an Kontakte mit meiner "alt-neuen" Heimat habe – das sind alles Zeugnisse, dass ich um meinen "deutschen Platz" nicht fürchten kann, und sogar mehr – dass ich mich mit meinem Leben hier versöhnt habe.
Bevor ich diesen glücklichen Eintrag zum Abschluss bringe, habe ich eine "Redaktionsbemerkung" – oder wie man es üblicherweise in Zeitungen bezeichnet, "in eigener Sache". Anscheinend ist man auch außerhalb von meinem Freundeskreis an meine Zeilen interessiert, sodass ich mich damit ein wenig auseinandersetzen muss, wie ich diesen Blog in Zukunft gestalte. Ich werde ihn weiter an Euch schicken – er wird aber vermutlich ein wenig allgemeiner werden, also nicht nur für das "Fachpublikum" das die Gerüche von Hornventilöl und Falafelfrittieröl voneinander unterscheiden kann. Ich wäre auch über jede Anregung dankbar, über jeden Themenvorschlag, da Ihr schon wahrscheinlich müde davon seid, meine deutsch-israelische Seelenachterbahn zu verfolgen.
Euch allen schicke ich die liebsten Grüße,
Euer Ofer
Ich verrate Euch ein kleines Geheimnis, Ihr müsst mir aber versprechen, mir nicht allzu sehr böse zu sein. Ich war nämlich letzte Woche für ein Paar Tage in München, und habe mich ja bei keinem gemeldet – mit einer guten Ausrede, allerdings. Es handelte sich um einen Forschungsbesuch zwecks meiner These, und ich war von früh bis spät im Archiv einer gewissen sudetendeutschen Organisation begraben, um Berge von Büchern und Akten zu lesen. Ich wäre liebend gerne zumindest nach Nürnberg gefahren, die Zeit war dafür einfach zu knapp. Soviel zu meiner guten Ausrede.
An einem Abend habe ich eine Karte für die bayerische Staatsoper bekommen, es gab meine geliebte "Butterfly", und so fand ich mich in einem See von gut gekleideten Münchnern und Münchnerinnen, das rollende "R" flog mir um die Ohren, und meine schicke neue H&M Kordjacke kam mir von wie ein gebrauchter Waschlappen aus dem 19ten Jahrhundert. Aber was tut man nicht für die Kunst!...
Die Vorstellung war wunderbar, das Bühnenbild traditionell und schön, und beim letzten Akt habe ich wie immer Tränen in den Augen gehabt. Bevor ich hier aber meine übertrieben romantische Seele auf Eure Bildschirme schmiere, erzähle ich Euch von einer wunderbaren Begegnung die ich direkt nach der Vorstellung hatte.
Ich wusste nämlich dass mein alter Freund aus Berliner Zeiten, S., eine Stelle im Staatsorchester hat. Und tatsächlich, als ich zum Orchester geschaut habe, sah ich sein unverkennbares Gesicht. Nur die Haare waren lediglich etwas ergraut. Nach dem Applaus habe ich mich dann so schnell wie möglich zum Bühneneingang begeben, um ihn zu erwarten.
Und tatsächlich – nach ein Paar Minuten – kam er raus. Er sah mich an, und blieb stehen, wie vom Blitz getroffen. "Ofer?!!" – er konnte es nicht glauben – "Was machst denn Du hier?". Man muss dazu sagen, wir haben uns seit ca. 8 Jahren nicht mehr gesehen, sodass die Überraschung durchaus berechtigt war. Er liest zwar ab und zu (na ja, wahrscheinlich mehr ab als zu) diesen Blog, aber wie Ihr wusste er nicht dass ich in die bayerische Hauptstadt komme. Wir sind dann ein Paar Biere trinken gegangen, und haben uns für den nächsten Abend wieder verabredet.
Und so kam es, dass wir am nächsten Tag in der Nähe des Max-Weber-Platzes, gemeinsam mit ein Paar anderen Kollegen aus Berliner Zeiten, das wunderbare helle bayerische Bier genossen haben. Wieso aber erzähle ich es Euch? Bis jetzt, muss ich gestehen, ist die Geschichte schön aber doch nicht so interessant. Es war das bei mir entstandene sonderliche Gefühl, das mich zum Beschreiben dieser Gegebenheit veranlasst.
Wie ich da saß, und mich mit S. und D. ausgetauscht habe, wie geht es jenem und was machen die und der, habe ich das Gefühl erwartet, dass ich immer beim Unterhalten mit Freunden aus Deutschland habe – Neid. Klingt hart, ich weiß, aber es entspricht der Wahrheit. Neid. Neid darüber, dass diese Freunde weiter in solchen Spitzenorchestern sitzen, mit den besten Kapellmeistern und Sängern, mit einem Gehalt das das Drei- bis Fünffache von meinem ist, mit einer (von ihnen oft unterschätzten) Ruhe, Ruhe im Leben, Ruhe im musikalischen Schaffen. Neid über das unbeschwerte Leben, darüber, dass sie zur Arbeit fahren können durch Strassen die gut und sicher sind, dass sie wissen, Ihr Arbeitsplatz ist bis zum Ende aller Zeiten sicher, und darüber, klingt ja fast schon makaber, dass ihr blöder Ministerpräsident nicht mit ihrem Leben gegen einen anderen blöden Iraner pokert, von wegen "schau wer die größere Rakete hat".
Aber er kam nicht, dieser Neid. Gar nicht. Es ist nicht so, dass alle von mir geführten Gründe keinen Bestand hätten. Haben sie ja auch. Bei Euch ist zurzeit die größte Gefahr, dass die FDP verschwindet, bei mir hier droht eher das gesamte Land zu verschwinden. Und doch – und doch saß ich da, und habe mich gefreut. Und war auch ein wenig stolz. Stolz darüber, dass ich trotz des schweren Umzugs nach Israel es geschafft habe, Kontakt zu meinen Freunden – zu Euch – zu behalten. Dass ich es hier geschafft habe, eine herzschmelzende Familie aufzubauen. Dass ich ein Studium gefunden habe, wo ich meine breiten Fachkenntnisse über Deutschland zum Ausdruck bringen kann. Dass es inzwischen viele Menschen gibt, die meine – diese – Worte gern lesen, sich darüber Gedanken machen, diese Worte an andere verschicken, darauf reagieren. Dass ich in einem Orchester sitze und meine Erfahrungen und das, was ich von meinen Freunden und Kollegen in Berlin und Nürnberg gelernt habe weitergeben kann. Ich blickte halt nicht mehr neidisch darauf, was S. und D. haben – obwohl ihr Leben durchaus beneidenswert ist – sondern war stolz, dass auch ich mal ein solches Leben geführt habe, ja, sogar mehr – dass ich mich so glücklich schätzen kann, dieses Leben einmal geführt zu haben. Ich hatte ja immer Angst, meine Verbindung zu Deutschland zu verlieren, dass die zehn Jahre die ich unter Euch verbracht habe keinen bleibenden Eindruck hinterlassen werden. Aber die Tatsache, dass ich das hier schreibe, dass Ihr das lest, die Tatsache, dass S. sich so gefreut mich wieder zu sehen und mich anerkannt hat (das ist ja das Wort, "Anerkennung"), dass M. aus dem Hochtaunus mit mir wieder den Kontakt aufgenommen hat, dass die Familie S. zu mir nach Israel kommt und Familie L. auch schon hier war, dass meine teuere M. mit ihrer Tochter uns auch bald besucht, und das, obwohl ich schon seit 2.5 Jahre nicht mehr in Deutschland lebe – ja Ihr merkt, ich könnte weiter und weiter schreiben, ich erwähne hier ja nur einen Bruchteil dessen, was ich an Kontakte mit meiner "alt-neuen" Heimat habe – das sind alles Zeugnisse, dass ich um meinen "deutschen Platz" nicht fürchten kann, und sogar mehr – dass ich mich mit meinem Leben hier versöhnt habe.
Bevor ich diesen glücklichen Eintrag zum Abschluss bringe, habe ich eine "Redaktionsbemerkung" – oder wie man es üblicherweise in Zeitungen bezeichnet, "in eigener Sache". Anscheinend ist man auch außerhalb von meinem Freundeskreis an meine Zeilen interessiert, sodass ich mich damit ein wenig auseinandersetzen muss, wie ich diesen Blog in Zukunft gestalte. Ich werde ihn weiter an Euch schicken – er wird aber vermutlich ein wenig allgemeiner werden, also nicht nur für das "Fachpublikum" das die Gerüche von Hornventilöl und Falafelfrittieröl voneinander unterscheiden kann. Ich wäre auch über jede Anregung dankbar, über jeden Themenvorschlag, da Ihr schon wahrscheinlich müde davon seid, meine deutsch-israelische Seelenachterbahn zu verfolgen.
Euch allen schicke ich die liebsten Grüße,
Euer Ofer
Mittwoch, 25. Januar 2012
Israelisches Tagebuch - Gastbeitrag
Liebe Freunde,
ausnahmsweise stelle ich einen Gastbeitrag in meinen Blog, und zwar keinen gewöhnlichen. Es handelt sich um einige Bilder, die mein guter Freund und begnadeter Fotograf Kai von Kotze aus Nürnberg, der sich gerade auf Welttour befindet, während seines Israelbesuchs geschossen hat. Es sind Bilder aus Ramallah – und Kai war so freundlich es mir zu erlauben, sie als Ergänzung zu den letzten Beiträgen hinzuzufügen.
Ich habe zwei weitere Bilder, die ich selber beim Check Point Kalandia gemacht habe, auch hinzugefügt.
Alle Kommentare, Fragen oder Anregungen zu diesen Bildern können wie immer bei meinem Blog hinterlassen werden – Kai wird sie dort lesen können – oder direkt an seine Emailadresse kaivonkotze@gmail.com geschickt werden.
Die Bilder sprechen für sich – deswegen schreibe ich diesmal nichts dazu.
Liebste Grüße,
Euer Ofer
Sonntag, 15. Januar 2012
Israelisches Tagebuch 51
Beachtung
(Eine Fortsetzung des letzten Eintrags)
Es ist merkwürdig – es gibt keine Pause zwischen Jerusalem und Ramallah. Das ist wahrscheinlich der Musiker in mir der das Wort "Pause" dafür verwendet, gemeint ist – zwischen den beiden Städten gibt es keine Lücke, beinah hätte ich gesagt – keine klare Trennung, die gibt es aber, obwohl man über die Wortwahl "klar" ja streiten könnte. Jerusalem streckt sich ja bis zum Check Point, die Palästinenser die auf der "anderen" Seite leben behaupten aber von sich, sie seien ja auch noch Jerusalemer, es ist halt so – und das ist keinesfalls nahöstlich – der Mund spricht eine Sprache, der Pass eine andere, die Mauer eine dritte.
Im fließenden Übergang wird Jerusalem zu Ramallah, gleiche Steinhäuser, gleiche nasse, rotdunkle Erde, nur die Werbeschilder sind auf einmal auf Arabisch. Ich war eigentlich nie in dieser Stadt, und jetzt, da es ja "Spannungen" gibt, verbietet es die Armee. Ich musste ein Formular ausfüllen, auf dem es stand – "es ist mir durchaus bewusst dass ich mich in ein Kampfgebiet begebe, dass ich Tod und Verletzungen riskiere, und dass ich, falls es brennslich wird, von keinem irgendwelche Rettungsmaßnahmen erwarten dürfte". Nett.
Ich merkte keine Spannungen, nur dass die Preise die neben den bunten Handybildern auf den Werbetafeln wesentlich niedriger sind als bei uns. Ihr merkt, ich versuche jegliche Klischees auszuweichen. Überhaupt, ich dachte, ich beende diesen Beitrag mit der Geschichte von Kalandia. Aber es kamen zwei Reaktionen, die mich zum Weiterschreiben bewegt haben. K. aus New York meinte, es sei schwierig, mit Palästina unpolitisch umzugehen. Das stimmt – ich habe versucht, die Bilder des Lebens die sich mir durch die Busfenster zeigten mithilfe meines politischen Wissens zu entziffern. Komischerweise gelang es mir nicht. Ich wollte mich wie ein Tourist, ich wollte mich wie im Ausland fühlen, es ging aber nicht. Es war kein Ausland. Es war sogar weniger Ausland als Bayern einem Berliner Ausland ist.
Die zweite Reaktion kam von M. aus Berlin. "Gruselig," so hörte sich das an, meine Beschreibung von Kalandia, "schwarz weiß und ein Bisschen nach Momo im Nahen Osten." Diese Reaktion machte mich ebenfalls sehr nachdenklich. Schwarz weiß wie im Film? Das wäre eigentlich nicht schlecht, da schwarz weiße Filme ja geeignet sind, die Kanten, die Konturen einer Realität deutlicher zu zeigen. Und wenn man in einer Realität lebt, deren Konturen durch das alltägliche Stumpfwerden auf Dauer zu verschwimmen drohen, ist so was manchmal vom Vorteil. Aber so sehr ich mich danach sehne, Momo im Nahen Osten zu sein, gelingt es mir nicht. (In einer Zwischenbemerkung muss ich gestehen – in Deutschland gelang es mir besser. Es ist aber eine andere Geschichte.)
Üblicherweise wurde uns Arafats Ruhestätte gezeigt, es hat geregnet und wir blieben im Bus, ich drückte meine Nase gegen die kalte Scheibe und schaute den Mammutsbau an, wo der Gründervater des modernen Palästina liegt. Davor streckt sich ein großer Platz, wo alle Flaggen der Staaten, die dem Staat Palästina ihre Anerkennung zusicherten, sich nass an ihren Stangen klatschten. Das schwarz-rot-goldene deutsche Morgengrauen fehlte, wie die amerikanische oder israelische Flagge. Was für eine Überraschung.
Wir verließen Ramallah, und fuhren durch idyllische Dörfer bis wir die riesige Baufläche der neu gegründeten Stadt Rawabi erreichten. Die Zeit war knapp, also wurden wir schnell in einen kleinen Saal geeilt, wo der Projektleiter uns eine ausführliche Darstellung der Bauarbeiten ablieferte. Er redete und redete, und ich konnte den Gedanken nicht vermeiden - so sahen sie aus, die Väter des Zionismus, als sie vor über hundert Jahren über die Gründung Tel Avivs sprachen, und so wie sie, werden wahrscheinlich aus nach diesem Mann irgendwann ein Platz oder eine Grundschule genannt.
Aber es fehlte mir etwas. Er sprach über Bauelemente, über die Lieferanten des Projekts, über Umweltschutz und Schulbau, über Grünanlagen und Beschäftigungsaussichten, über die nah liegende Bir-Seet Universität, über Strassen und Laternen und Solaranlagen und und und. Aber er verlor kein Wort über Israel. Über mich. Über seinen Nachbar, der ihm gegenüber saß und höflich Notizen machte. Er erwähnte kurz, die Siedlung die auf dem Berg nebenan liegt erschwere den Bau der Hauptstrasse zwischen Ramallah und der neuen Stadt Rawabi. Ich schaute aus dem Saalfenster. Die Kräne tanzten ihren Tanz, hoben und senkten Steine und Metallstangen. Und in der klaren Luft, im entfernten Horizont, konnte man die Hochhäuser Tel Avivs sehen.
Ich nehme an, hier gilt der Satz – so wie Du mir, so ich Dir. Es ist aber ein beschießenes, wenn auch wohlverdientes Gefühl, unbeachtet zu sein. Nicht anerkannt, wenn auch als den Bösen in der Geschichte.
Danach, im luxuriösen Mövenpick Hotel in Ramallah, trafen wir den eigentlichen Gründer von Rawabi. In der Luft hing eine dünne Marlboro Wolke, es wurde Kaffee serviert, und er – Bashar al Masri – hielt eine kurze Rede, in der er Israel doch immer wieder erwähnte, als Inspiration, nicht mehr und nicht weniger – und als Quelle von vielen der Produkten, die für den Bau notwendig sind. (Ironie des Schicksals, muss man sagen. Die Palästinensischen Bauarbeiter bauten über vierzig Jahre unsere Siedlungen. Jetzt bauen wir die palästinensische Antwort darauf.) Aber als Nachbar fehlte auch hier jede Erwähnung. So wie Du mir, so ich Dir.
Später, als wir in einer Bar in der Ramallah City zusammen saßen um dem Tag einen würdigen Abschluss zu geben, fragte ich den Organisator wo die Toiletten seien. "Eine Etage tiefer, aber tue mir den Gefallen, lass Dich nicht als Israeli erkennen. Naja, so wie Du aussiehst wird es kein Problem sein, " er klopfte auf meine Schulter, und rückte meine H&M Kordjacke zurecht, "aber sei achtsam."
Ich kletterte die Treppen herunter, und ging in einen schmalen Gang, über dem das internationale Frau-Mann Zeichen hing. Vor der Tür wartete ein Bursche und grinste mich an, ich schätzte ihn nicht älter als 22 Jahre. "You are not from here", sagte er fragend, und Ich spürte meinen Herzschlag im Hals, immer schneller. Angst? "No no", sagte ich und versuchte ebenfalls zu grinsen. "I come from Germany." "Germany?", seine Augen leuchteten, "Wonderful! I love Germany! I think you are great! I am Mahmmud. What is your name?". Ich musste nicht mal eine Denkpause anlegen, den Drill kenne ich schon, aus Konzerten in braunen Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern, oder aus der Jerusalemer Altstadt zu Zeiten des zweiten palästinensischen Aufstandes, der Intifada.
"Stefan", grinste ich, und versuchte, wie ein Stefan auszusehen. "nice to meet you."
Ich bin im Bus eingeschlafen und merkte gar nichts vom Rückweg nach Jerusalem. Alle waren müde, und so gingen wir still auseinander, ich stieg in mein Auto, schimpfte auf meine nicht funktionierenden Scheibenwischer, und fuhr los, Richtung Tel Aviv, nachhause, zu Ori. Ich versuchte unbeachtet ins Bett zu klettern, Gili schlief ruhig weiter, aber Ori, die meine sensiblen Ohren bekommen hat, öffnete kurz die Augen. "Aba", murmelte sie, "Papa."
Seid alle liebst gegrüßt,
Euer Ofer
(Eine Fortsetzung des letzten Eintrags)
Es ist merkwürdig – es gibt keine Pause zwischen Jerusalem und Ramallah. Das ist wahrscheinlich der Musiker in mir der das Wort "Pause" dafür verwendet, gemeint ist – zwischen den beiden Städten gibt es keine Lücke, beinah hätte ich gesagt – keine klare Trennung, die gibt es aber, obwohl man über die Wortwahl "klar" ja streiten könnte. Jerusalem streckt sich ja bis zum Check Point, die Palästinenser die auf der "anderen" Seite leben behaupten aber von sich, sie seien ja auch noch Jerusalemer, es ist halt so – und das ist keinesfalls nahöstlich – der Mund spricht eine Sprache, der Pass eine andere, die Mauer eine dritte.
Im fließenden Übergang wird Jerusalem zu Ramallah, gleiche Steinhäuser, gleiche nasse, rotdunkle Erde, nur die Werbeschilder sind auf einmal auf Arabisch. Ich war eigentlich nie in dieser Stadt, und jetzt, da es ja "Spannungen" gibt, verbietet es die Armee. Ich musste ein Formular ausfüllen, auf dem es stand – "es ist mir durchaus bewusst dass ich mich in ein Kampfgebiet begebe, dass ich Tod und Verletzungen riskiere, und dass ich, falls es brennslich wird, von keinem irgendwelche Rettungsmaßnahmen erwarten dürfte". Nett.
Ich merkte keine Spannungen, nur dass die Preise die neben den bunten Handybildern auf den Werbetafeln wesentlich niedriger sind als bei uns. Ihr merkt, ich versuche jegliche Klischees auszuweichen. Überhaupt, ich dachte, ich beende diesen Beitrag mit der Geschichte von Kalandia. Aber es kamen zwei Reaktionen, die mich zum Weiterschreiben bewegt haben. K. aus New York meinte, es sei schwierig, mit Palästina unpolitisch umzugehen. Das stimmt – ich habe versucht, die Bilder des Lebens die sich mir durch die Busfenster zeigten mithilfe meines politischen Wissens zu entziffern. Komischerweise gelang es mir nicht. Ich wollte mich wie ein Tourist, ich wollte mich wie im Ausland fühlen, es ging aber nicht. Es war kein Ausland. Es war sogar weniger Ausland als Bayern einem Berliner Ausland ist.
Die zweite Reaktion kam von M. aus Berlin. "Gruselig," so hörte sich das an, meine Beschreibung von Kalandia, "schwarz weiß und ein Bisschen nach Momo im Nahen Osten." Diese Reaktion machte mich ebenfalls sehr nachdenklich. Schwarz weiß wie im Film? Das wäre eigentlich nicht schlecht, da schwarz weiße Filme ja geeignet sind, die Kanten, die Konturen einer Realität deutlicher zu zeigen. Und wenn man in einer Realität lebt, deren Konturen durch das alltägliche Stumpfwerden auf Dauer zu verschwimmen drohen, ist so was manchmal vom Vorteil. Aber so sehr ich mich danach sehne, Momo im Nahen Osten zu sein, gelingt es mir nicht. (In einer Zwischenbemerkung muss ich gestehen – in Deutschland gelang es mir besser. Es ist aber eine andere Geschichte.)
Üblicherweise wurde uns Arafats Ruhestätte gezeigt, es hat geregnet und wir blieben im Bus, ich drückte meine Nase gegen die kalte Scheibe und schaute den Mammutsbau an, wo der Gründervater des modernen Palästina liegt. Davor streckt sich ein großer Platz, wo alle Flaggen der Staaten, die dem Staat Palästina ihre Anerkennung zusicherten, sich nass an ihren Stangen klatschten. Das schwarz-rot-goldene deutsche Morgengrauen fehlte, wie die amerikanische oder israelische Flagge. Was für eine Überraschung.
Wir verließen Ramallah, und fuhren durch idyllische Dörfer bis wir die riesige Baufläche der neu gegründeten Stadt Rawabi erreichten. Die Zeit war knapp, also wurden wir schnell in einen kleinen Saal geeilt, wo der Projektleiter uns eine ausführliche Darstellung der Bauarbeiten ablieferte. Er redete und redete, und ich konnte den Gedanken nicht vermeiden - so sahen sie aus, die Väter des Zionismus, als sie vor über hundert Jahren über die Gründung Tel Avivs sprachen, und so wie sie, werden wahrscheinlich aus nach diesem Mann irgendwann ein Platz oder eine Grundschule genannt.
Aber es fehlte mir etwas. Er sprach über Bauelemente, über die Lieferanten des Projekts, über Umweltschutz und Schulbau, über Grünanlagen und Beschäftigungsaussichten, über die nah liegende Bir-Seet Universität, über Strassen und Laternen und Solaranlagen und und und. Aber er verlor kein Wort über Israel. Über mich. Über seinen Nachbar, der ihm gegenüber saß und höflich Notizen machte. Er erwähnte kurz, die Siedlung die auf dem Berg nebenan liegt erschwere den Bau der Hauptstrasse zwischen Ramallah und der neuen Stadt Rawabi. Ich schaute aus dem Saalfenster. Die Kräne tanzten ihren Tanz, hoben und senkten Steine und Metallstangen. Und in der klaren Luft, im entfernten Horizont, konnte man die Hochhäuser Tel Avivs sehen.
Ich nehme an, hier gilt der Satz – so wie Du mir, so ich Dir. Es ist aber ein beschießenes, wenn auch wohlverdientes Gefühl, unbeachtet zu sein. Nicht anerkannt, wenn auch als den Bösen in der Geschichte.
Danach, im luxuriösen Mövenpick Hotel in Ramallah, trafen wir den eigentlichen Gründer von Rawabi. In der Luft hing eine dünne Marlboro Wolke, es wurde Kaffee serviert, und er – Bashar al Masri – hielt eine kurze Rede, in der er Israel doch immer wieder erwähnte, als Inspiration, nicht mehr und nicht weniger – und als Quelle von vielen der Produkten, die für den Bau notwendig sind. (Ironie des Schicksals, muss man sagen. Die Palästinensischen Bauarbeiter bauten über vierzig Jahre unsere Siedlungen. Jetzt bauen wir die palästinensische Antwort darauf.) Aber als Nachbar fehlte auch hier jede Erwähnung. So wie Du mir, so ich Dir.
Später, als wir in einer Bar in der Ramallah City zusammen saßen um dem Tag einen würdigen Abschluss zu geben, fragte ich den Organisator wo die Toiletten seien. "Eine Etage tiefer, aber tue mir den Gefallen, lass Dich nicht als Israeli erkennen. Naja, so wie Du aussiehst wird es kein Problem sein, " er klopfte auf meine Schulter, und rückte meine H&M Kordjacke zurecht, "aber sei achtsam."
Ich kletterte die Treppen herunter, und ging in einen schmalen Gang, über dem das internationale Frau-Mann Zeichen hing. Vor der Tür wartete ein Bursche und grinste mich an, ich schätzte ihn nicht älter als 22 Jahre. "You are not from here", sagte er fragend, und Ich spürte meinen Herzschlag im Hals, immer schneller. Angst? "No no", sagte ich und versuchte ebenfalls zu grinsen. "I come from Germany." "Germany?", seine Augen leuchteten, "Wonderful! I love Germany! I think you are great! I am Mahmmud. What is your name?". Ich musste nicht mal eine Denkpause anlegen, den Drill kenne ich schon, aus Konzerten in braunen Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern, oder aus der Jerusalemer Altstadt zu Zeiten des zweiten palästinensischen Aufstandes, der Intifada.
"Stefan", grinste ich, und versuchte, wie ein Stefan auszusehen. "nice to meet you."
Ich bin im Bus eingeschlafen und merkte gar nichts vom Rückweg nach Jerusalem. Alle waren müde, und so gingen wir still auseinander, ich stieg in mein Auto, schimpfte auf meine nicht funktionierenden Scheibenwischer, und fuhr los, Richtung Tel Aviv, nachhause, zu Ori. Ich versuchte unbeachtet ins Bett zu klettern, Gili schlief ruhig weiter, aber Ori, die meine sensiblen Ohren bekommen hat, öffnete kurz die Augen. "Aba", murmelte sie, "Papa."
Seid alle liebst gegrüßt,
Euer Ofer
Mittwoch, 11. Januar 2012
Israelisches Tagebuch 50
Wer Harry Potter gelesen hat, kennt diesen Moment am Bahnhof, in dem man das Gleis Nummer "viereinhalb" sucht. Um daran zu gelangen, in diese Spalte innerhalb der Realität, muss man seine Augen schließen und gegen eine Wand laufen, eine magische Pforte in eine Zauberwelt.
Der Weg zum Diplomatenviertel in Jerusalem ist ein ähnlicher. Es befindet sich in einer Grauen Zone, zwischen "unserem" und "ihrem" Jerusalem, das eine erkennt das andere nicht, kann es aber nicht ignorieren. Diese zwei Jerusalems umarmen sich unfreiwillig, nicht zu fest, um die Einwohner der anderen Seite nicht zu berühren, nicht zu locker, wahrscheinlich weil jede Hälfte davor Angst hat, die andere zu verlieren, oder vielleicht sogar sich selbst.
Man fährt von der Altstadt gen Norden, vorbei an dem berühmten "American Colony" Hotel, ehemaligem Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde in Jerusalem, vorbei an Scheich G´arach, Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen Landhungrigen rechtsextremen Israelis und Dach-über-dem-Kopf hungrigen Palästinensern. Man fährt rechts Richtung Ölberg, Mt. Scoupus, Augusta Victoria, und da, zwischen dem westlichen, israelischen Jerusalem und dem arabischen, östlichen, an diesem "viereinhalb" Gleis, liegt das Diplomatenviertel. Schweden, Spanier, Belgier, eng beisammen sitzend, dicke Autos mit europäischen Kennzeichen und dicken Scheiben, nasse, hohe Steinmauern, und ein Souvenirladen mit Kreuzen aus Olivenholz.
Eine kurze Erklärung – Jerusalem wird nicht als die Hauptstadt Israels anerkannt. Alle Botschaften befinden sich in Tel Aviv – auch die deutsche. Die Diplomaten die in Jerusalem sitzen beschäftigen sich ausschließlich mit der palästinensischen Bevölkerung. Das heißt nicht, es sitzt dort zum Beispiel eine amerikanische Konsulat für Palästina – könnt Ihr Euch einen amerikanischen Präsidenten vorstellen, der einen solchen Satz über die Lippen bringt? – es ist einfach "Eine Vertretung in Ost-Jerusalem". Eine Vertretung die die Hauptstadt, in der sie sitzt, nicht anerkennt, oder doch, aber als eine Hauptstadt eines Staates, den es (noch) nicht gibt. Klar doch. Bonn und Berlin, in einem vereint.
An einem nassen Morgen traf ich mich dort mit einer Gruppe von Palästinensern und Israelis, organisiert (und finanziert) von einer deutschen Stiftung. Geführt wurde die Gruppe von einem jüdischen Israeli deutsch-amerikanischer Herkunft, selber eine Art "viereinhalb" Gleis, (eben an einem anderen Bahnhof), und dementsprechend auch charmant und kosmopolitisch. Der Grund dieses Treffens war eine gemeinsame Reise nach Ramallah, die größte palästinensische Stadt im Westjordanland (nach Jerusalem – aufgepasst!), Sitz der Autonomiebehörde und Zentrum der jungen palästinensischen Wirtschaft.
Es ist viel auf dieser Reise passiert. Zu viel, um alles beschreiben zu können. Wir haben eine neu gegründete Stadt namens Rawabi gesehen, die mit Geld aus Katar, Arbeitern aus dem Westjordanland, Küchentüren aus Bethlehem und Zement aus Israel gebaut wird. Wir haben das neuste Hotel Ramallahs gesehen, Mövenpick, fünf Sterne, groß und beeindruckend, mit einer ewigen, doch so nahöstlichen Marlboro Wolke auf jeder Etage.
Aber das alles wird auf ein anderes Mal warten müssen. Ich will Euch hier über einen Ort erzählen, der an keinem Gleis liegt, einen Ort, um dessen Zugang zu erreichen man auch gegen eine Wand laufen muss, aber die Wand ist hart und man knallt sich dagegen, immer wieder. Dieser Ort ist der Check-point-charlie des 21. Jahrhunderts, die liegen ja überall, diese Check-point-charlies, im internationalen Gewässer vor der Küste Italiens, oder an dem Rio Grande im Süden der USA. "Hier hört die westliche Welt auf" – kennt Ihr diesen Satz? Friedrichstrasse, U-Bahnhof Kochstrasse, Café Adler und John la Carre. Bei uns heißt der Ort Kalandia. Kalandia, mit einem "K" das tief im Hals sitzt, mit sechs Meter hohen Mauern, auf denen, wie ein Friseur aus den 80gern, Stacheldrahtlocken. Das ist das wichtigste Tor zwischen Ramallah und Jerusalem, hier passieren jeden Tag tausende Siedler, Palästinenser, UNO Mitarbeiter, Diplomaten, Militärs.
Ich blickte auf mein neues, schickes Handy, und schaute nach der Uhr. Es war kurz nach Mittag, und ich dachte – Ori schläft jetzt ein, ob ich das Kindermädchen anrufen sollte, lieber nicht, ich wollte keine Verbindung herstellen zwischen Kalandia und dem Schlafzimmer meiner Tochter.
Der Bus fuhr glatt durch das Tor, unkontrolliert, klar doch, wir fahren ja aus Israel raus. Besatzungstourismus. "Wollt Ihr es sehen?" fragte der geübte Grenzgänger der uns führt. Der Busfahrer navigierte auf den Parkplatz, eine viertel Stunde haben wir, dann müssen wir weiter. Ein Mädchen aus unserer Gruppe kennt sich hier aus, "folgt mir," sagte sie, wir gingen in eine Halle, Wellblech und erdrückender Geruch von Urin, und ein kleiner Junge der mit seinem Fahrrad durch die doch kühle Jerusalemer Luft in der Halle seine 8ter dreht. Hier warten jeden morgen die Palästinenser, die aus den "Gebieten" (wie in Israel das Westjordanland heißt) nach Jerusalem wollen. Einige von ihnen wollen arbeiten, andere müssen in ein israelisches Krankenhaus, vielleicht einen Verwandten besuchen. Die Siedler und Europäer dürfen im Auto sitzen bleiben, sie müssen erst gar nicht in diese Halle, sie werden durch das Tor durchgewunken.
Die Halle ist jetzt fast leer, man hört von draußen ein Radio aus einem mit offenen Fenstern stehenden Taxi und das summen der Fahrradreifen des kleinen Jungen, der immer noch seine 8ter um uns dreht, ich schaue ihn an, er kommt mir leicht behindert vor, mit einem stummen Lächeln. Ein alter Mann kommt auf uns zu. Krummer Gang, leicht unrasiert, eine Marlboro Zigarette brennt zitternd in seiner Hand. Er bleibt vor uns stehen. "Das ist Kalandia hier, Kalandia, versteht Ihr, " sagt er auf englisch mit unverkennbarem arabischen Akzent, legt eine kurze Pause, und fährt fort mit einer kurzen Rede, die schon gut geübt ist. Die Soldaten, was ist das für ein Leben, die schmalen Durchgänge, was ist das für ein Leben, von Ramallah nach Jerusalem sind es einige Kilometer, am morgen dauert es aber über zwei Stunden, "was ist das für ein Leben," sagt er, und bleibt plötzlich still. Sein Blick wandert von einem zum anderen, er schaut, wie gut die Rede bei uns ankam, er merkt dass etwas nicht stimmt. Wo wir herkämen, will er wissen. "Palästina, Israel, Deutschland" sagen wir durcheinander. Er ist offensichtlich enttäuscht, er hat sich vielleicht eine Spende erhofft. Er nimmt einen langen Zug von der zitternden Zigarette. Besatzungstourismus.
Da, wo die Halle in viele Gänge mündet, jeder so breit für einen einzigen Menschen, steht ein Schild, "Angenehme Aufenthalt", und darunter eine Uhr, die stillsteht. Mir wird schlecht und ich kehre in den Bus zurück. Wir fahren weiter, jetzt sehe ich die andere Seite von der Mauer, riesige Graffiti von berühmten Palästinensern die in israelischen Gefängnissen sitzen, einige Bilder erkenne ich wieder, sie sind auch bei uns berühmt, einige wurden sogar in dem "Schalit-Geschäft", dem Umtausch gegen den israelischen Soldaten, aus dem Haft entlassen. Wir kommen an einem Verkehrskreis. Ein kräftiger Mann, Mitte dreißig, läuft hin und zurück über den Kreis, dirigiert die Autos. Er trägt keine Uniform – wir sind noch zu nah an dem Check Point, er traut sich nicht – aber alle geben ihm, dem Ampelmann, den nötigen Respekt. Unser Busfahrer aber versucht etwas zu schnell in den Kreis zu fahren, und wird prompt mit einem bösen Blick begegnet. Ich lehne meinen Kopf zurück, und schaue auf die Uhr im Bus. Sie blinkt eine unbestimmte Zeit, und ich denke an Ori, und hoffe dass sie noch schläft wenn ich hier rauskomme.
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Liebe Grüße,
Euer Ofer
Der Weg zum Diplomatenviertel in Jerusalem ist ein ähnlicher. Es befindet sich in einer Grauen Zone, zwischen "unserem" und "ihrem" Jerusalem, das eine erkennt das andere nicht, kann es aber nicht ignorieren. Diese zwei Jerusalems umarmen sich unfreiwillig, nicht zu fest, um die Einwohner der anderen Seite nicht zu berühren, nicht zu locker, wahrscheinlich weil jede Hälfte davor Angst hat, die andere zu verlieren, oder vielleicht sogar sich selbst.
Man fährt von der Altstadt gen Norden, vorbei an dem berühmten "American Colony" Hotel, ehemaligem Sitz der palästinensischen Autonomiebehörde in Jerusalem, vorbei an Scheich G´arach, Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen Landhungrigen rechtsextremen Israelis und Dach-über-dem-Kopf hungrigen Palästinensern. Man fährt rechts Richtung Ölberg, Mt. Scoupus, Augusta Victoria, und da, zwischen dem westlichen, israelischen Jerusalem und dem arabischen, östlichen, an diesem "viereinhalb" Gleis, liegt das Diplomatenviertel. Schweden, Spanier, Belgier, eng beisammen sitzend, dicke Autos mit europäischen Kennzeichen und dicken Scheiben, nasse, hohe Steinmauern, und ein Souvenirladen mit Kreuzen aus Olivenholz.
Eine kurze Erklärung – Jerusalem wird nicht als die Hauptstadt Israels anerkannt. Alle Botschaften befinden sich in Tel Aviv – auch die deutsche. Die Diplomaten die in Jerusalem sitzen beschäftigen sich ausschließlich mit der palästinensischen Bevölkerung. Das heißt nicht, es sitzt dort zum Beispiel eine amerikanische Konsulat für Palästina – könnt Ihr Euch einen amerikanischen Präsidenten vorstellen, der einen solchen Satz über die Lippen bringt? – es ist einfach "Eine Vertretung in Ost-Jerusalem". Eine Vertretung die die Hauptstadt, in der sie sitzt, nicht anerkennt, oder doch, aber als eine Hauptstadt eines Staates, den es (noch) nicht gibt. Klar doch. Bonn und Berlin, in einem vereint.
An einem nassen Morgen traf ich mich dort mit einer Gruppe von Palästinensern und Israelis, organisiert (und finanziert) von einer deutschen Stiftung. Geführt wurde die Gruppe von einem jüdischen Israeli deutsch-amerikanischer Herkunft, selber eine Art "viereinhalb" Gleis, (eben an einem anderen Bahnhof), und dementsprechend auch charmant und kosmopolitisch. Der Grund dieses Treffens war eine gemeinsame Reise nach Ramallah, die größte palästinensische Stadt im Westjordanland (nach Jerusalem – aufgepasst!), Sitz der Autonomiebehörde und Zentrum der jungen palästinensischen Wirtschaft.
Es ist viel auf dieser Reise passiert. Zu viel, um alles beschreiben zu können. Wir haben eine neu gegründete Stadt namens Rawabi gesehen, die mit Geld aus Katar, Arbeitern aus dem Westjordanland, Küchentüren aus Bethlehem und Zement aus Israel gebaut wird. Wir haben das neuste Hotel Ramallahs gesehen, Mövenpick, fünf Sterne, groß und beeindruckend, mit einer ewigen, doch so nahöstlichen Marlboro Wolke auf jeder Etage.
Aber das alles wird auf ein anderes Mal warten müssen. Ich will Euch hier über einen Ort erzählen, der an keinem Gleis liegt, einen Ort, um dessen Zugang zu erreichen man auch gegen eine Wand laufen muss, aber die Wand ist hart und man knallt sich dagegen, immer wieder. Dieser Ort ist der Check-point-charlie des 21. Jahrhunderts, die liegen ja überall, diese Check-point-charlies, im internationalen Gewässer vor der Küste Italiens, oder an dem Rio Grande im Süden der USA. "Hier hört die westliche Welt auf" – kennt Ihr diesen Satz? Friedrichstrasse, U-Bahnhof Kochstrasse, Café Adler und John la Carre. Bei uns heißt der Ort Kalandia. Kalandia, mit einem "K" das tief im Hals sitzt, mit sechs Meter hohen Mauern, auf denen, wie ein Friseur aus den 80gern, Stacheldrahtlocken. Das ist das wichtigste Tor zwischen Ramallah und Jerusalem, hier passieren jeden Tag tausende Siedler, Palästinenser, UNO Mitarbeiter, Diplomaten, Militärs.
Ich blickte auf mein neues, schickes Handy, und schaute nach der Uhr. Es war kurz nach Mittag, und ich dachte – Ori schläft jetzt ein, ob ich das Kindermädchen anrufen sollte, lieber nicht, ich wollte keine Verbindung herstellen zwischen Kalandia und dem Schlafzimmer meiner Tochter.
Der Bus fuhr glatt durch das Tor, unkontrolliert, klar doch, wir fahren ja aus Israel raus. Besatzungstourismus. "Wollt Ihr es sehen?" fragte der geübte Grenzgänger der uns führt. Der Busfahrer navigierte auf den Parkplatz, eine viertel Stunde haben wir, dann müssen wir weiter. Ein Mädchen aus unserer Gruppe kennt sich hier aus, "folgt mir," sagte sie, wir gingen in eine Halle, Wellblech und erdrückender Geruch von Urin, und ein kleiner Junge der mit seinem Fahrrad durch die doch kühle Jerusalemer Luft in der Halle seine 8ter dreht. Hier warten jeden morgen die Palästinenser, die aus den "Gebieten" (wie in Israel das Westjordanland heißt) nach Jerusalem wollen. Einige von ihnen wollen arbeiten, andere müssen in ein israelisches Krankenhaus, vielleicht einen Verwandten besuchen. Die Siedler und Europäer dürfen im Auto sitzen bleiben, sie müssen erst gar nicht in diese Halle, sie werden durch das Tor durchgewunken.
Die Halle ist jetzt fast leer, man hört von draußen ein Radio aus einem mit offenen Fenstern stehenden Taxi und das summen der Fahrradreifen des kleinen Jungen, der immer noch seine 8ter um uns dreht, ich schaue ihn an, er kommt mir leicht behindert vor, mit einem stummen Lächeln. Ein alter Mann kommt auf uns zu. Krummer Gang, leicht unrasiert, eine Marlboro Zigarette brennt zitternd in seiner Hand. Er bleibt vor uns stehen. "Das ist Kalandia hier, Kalandia, versteht Ihr, " sagt er auf englisch mit unverkennbarem arabischen Akzent, legt eine kurze Pause, und fährt fort mit einer kurzen Rede, die schon gut geübt ist. Die Soldaten, was ist das für ein Leben, die schmalen Durchgänge, was ist das für ein Leben, von Ramallah nach Jerusalem sind es einige Kilometer, am morgen dauert es aber über zwei Stunden, "was ist das für ein Leben," sagt er, und bleibt plötzlich still. Sein Blick wandert von einem zum anderen, er schaut, wie gut die Rede bei uns ankam, er merkt dass etwas nicht stimmt. Wo wir herkämen, will er wissen. "Palästina, Israel, Deutschland" sagen wir durcheinander. Er ist offensichtlich enttäuscht, er hat sich vielleicht eine Spende erhofft. Er nimmt einen langen Zug von der zitternden Zigarette. Besatzungstourismus.
Da, wo die Halle in viele Gänge mündet, jeder so breit für einen einzigen Menschen, steht ein Schild, "Angenehme Aufenthalt", und darunter eine Uhr, die stillsteht. Mir wird schlecht und ich kehre in den Bus zurück. Wir fahren weiter, jetzt sehe ich die andere Seite von der Mauer, riesige Graffiti von berühmten Palästinensern die in israelischen Gefängnissen sitzen, einige Bilder erkenne ich wieder, sie sind auch bei uns berühmt, einige wurden sogar in dem "Schalit-Geschäft", dem Umtausch gegen den israelischen Soldaten, aus dem Haft entlassen. Wir kommen an einem Verkehrskreis. Ein kräftiger Mann, Mitte dreißig, läuft hin und zurück über den Kreis, dirigiert die Autos. Er trägt keine Uniform – wir sind noch zu nah an dem Check Point, er traut sich nicht – aber alle geben ihm, dem Ampelmann, den nötigen Respekt. Unser Busfahrer aber versucht etwas zu schnell in den Kreis zu fahren, und wird prompt mit einem bösen Blick begegnet. Ich lehne meinen Kopf zurück, und schaue auf die Uhr im Bus. Sie blinkt eine unbestimmte Zeit, und ich denke an Ori, und hoffe dass sie noch schläft wenn ich hier rauskomme.
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Liebe Grüße,
Euer Ofer
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