Freitag, 16. November 2012

Israelisches Tagebuch 55

Liebe Freunde,

 bis Gili das Wort ausgesprochen hat, habe ich selber es noch nicht wirklich begriffen. Ori, unsere Tochter, war in warmer Kleidung verpackt auf ihrem Arm, und ich, hinterher, zog einen großen Koffer, auf der einen Schulter das Horn, auf der anderen eine Tasche mit Windeln, Spielzeug, Bananen.

Wir fliehen.

 Wortlos schnallen wir Oris Sicherheitsgurt fest, laden unsere Sachen in den kleinen Hyundai, und fahren los, schnell weg aus Tel Aviv, nach Norden. An der Ampel schaue ich in die anderen Autos. Wahrscheinlich sehen wir auch so aus, Papa blickt starr am Steuer und Mama schaut besorgt auf das Smartphone, auf der Rückbank Kinder die aus der Abendruhe gerissen und in das Auto gesetzt wurden um zu den Großeltern, Freunden, Bekannten zu fahren – Hauptsache schnell weg aus Tel Aviv. Die Ampel wird grün, ich merke wie fest meine Finger das Lenkrad halten. Ori will ihre Kinder-CD hören, und bald ist das kleine Auto voll mit süßen Kinderstimmen. "Komm zu uns kleines Flugzeug, nimm uns mit in den Himmel, wo wir unsere Taschen voll mit Sternen, mit Geschenken für die Kinder, packen werden." Auf der entgegengesetzten Spur fahren Militärfahrzeuge, beladen mit Panzern und Panzerwagen, gen Süden.

Eine Stunde vorher.

 Eine Freundin von Gili war mit ihrem Sohn bei uns, eigentlich mag ich sie nicht so wirklich. Also bin ich in das Schlafzimmer gegangen und habe weiter an meinem Artikel für eine Konferenz gearbeitet. Ori kam hinterher, sie mag den Jungen anscheinend auch nicht so sehr. Sie wollte im Computer Bilder von Nilpferden sehen, sie liebt Nilpferde seitdem wir so ein Vieh im Berliner Zoo gesehen haben. "Noch eins!" kichert sie entzückt in meinen Armen. Gili schaut zu uns ins Zimmer, sie will auch mit uns zusammensein und sich nicht mehr um den Besuch kümmern. Ich lächle sie an und streichle ihren schon etwas größeren Bauch an. Ich lese ihre Lippen wie sie stumm sagt – bald gehen sie, dann komme ich – und wiedme mich weiter meinem Nilpferde-süchtigen Kind.

Kriegsyrene.

Ich denke gar nicht nach. Ich packe Ori, nehm den Schlüßel. Schau Gili an. Sie nimmt ihr Handy. Es fällt kein Wort. Die Freundin murmelt was, ich höre nicht hin, ich denke nur, was mache ich, das kann doch nicht sein. Ich renne aus der Wonung. Treppenhaus, Stimmen von Nachbarn. Hast du den schlüßel. Habe ich. Komm. Wir laufen die Treppen herunter. Ori sagt kein Wort, hält mich aber fest. Im Bombenkeller brennt schon Licht, ich sehe Ayala aus dem Erdgeschoss. Ihr großer Junge zittert am ganzen Körper. Ich lächele ihn an, Ori fängt an zu singen. Ich liebe mein Kind. Gilis Freundin, inzwischen auch unten mit ihrem Sohn angekommen, ist hysterisch. Ich schaue sie an, deute auf das kleine Nachbarskind, und bitte sie sich zu besinnen. Die Nachbarin weiß nicht wo ihr Mann bleibt, Gili gibt ihr ihr Handy. Er geht nicht ran.

War das eine Explosion?

Ein Nachbar tritt in den Bombenkeller hinein, er hat kein Blut im Gesicht. "Habt ihr das gehört?". Später wird sich herausstellen, die Stadt wurde zu dem Punkt nicht direkt getroffen, Erst später. Ich versuche, mit dem Nachbarskind ins Gespräch zu kommen, im von meinen Erfahrungen vom Golfkrieg, 1991, zu erzählen. Ich sehe in seinen Augen, er hört mir nicht zu. Ich sehe in seinen Augen, er hat Angst.

Die Syrene hört auf. Stille.

Was nun? Ich suche die restlichen Lichtschalter in dem großen, kahlen Raum. Ich schaue Gili an. Sie ist in Ordnung, ich glaube aber, sie kapiert nicht was sich hier abspielt. Ich auch nicht. Wir gehen zurück in die Wohnung. Ich packe mechanisch eine Tasche die ab heute die ganze Zeit voll und bereit neben der Tür stehen wird. Ich schmeiße darin alles mögliche. Wasser, Windeln, Bücher, Kaffe, Schockolade, Klamotten für Ori. Gili packt mich am Arm.

Wir fliehen.

Das Packen geht schnell zu, ruhig, effizient. Ori spielt und singt, ich rufe meine Schwester an, und wenn ich ihr sage – ich bin gerade mit Ori auf dem Arm in den Bombenkeller gerannt – fange ich an zu weinen, heftig. Ich fange mich aber schnell auf, schaue, dass Ori nichts davon mitbekommt. Gili sieht meine Rote Augen. Ich versuche sie anzulächeln, "sollen wir unsere Pässe nehmen," frage ich, "wir können ja nach Berlin fliegen." Ich schreibe schnell auf meine Facebookseite eine Zeile – die ersten Reaktionen kommen auch prompt. Ich bin stolz.

Und jetzt sitzen wir im Galiläa, bei Gilis Eltern. Es ist ruhig, Ori und Gili schlafen schon fest. Vielleicht war es feige zu fliehen, aber im Krieg, mit einem Kind auf dem Arm und einem im Bauch, ist Feigheit der wahre Mut. Es sind aber zwei Bilder, die ich nie im Leben vergessen werde. Wie ich mit Ori die Treppen runterrenne. Und wie Gili vor mir geht, ihr ganzer Körper um Ori gewölbt, der kleine helle Kindeskopf umgeben von den schweren, schwarzen Locken der Mutter, meiner Frau.

Und in diesen Stunden rede ich nicht von Politik, sondern biete Euch an – betet mit mir für alle Mütter, in Gaza und bei uns, die sich jetzt um ihre Kinder wölben, auf der Flucht. Wieder auf der Flucht.

Euer Ofer

1 Kommentar:

  1. Lieber Ofer, es ist so schlimmm! Danke für deinen Eintrag! Wir denken sehr an euch und beten tun wir auch !
    Wenn mein Vater Paul vom Leid des Krieges erzählt, dann ist das ganz weit in der Vergangenheit erzählt. So etwas , was unvorstellbar ist.... für mich, für Paul, für Harald.....
    Und ihr seid mittendrin !
    Wir umarmen euch und bieten euch die offenen Türen unseres Hauses an, wann immer ihr sie braucht !
    Liebe, liebe Grüße !
    Johanna, Harald und Paul

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