Mittwoch, 21. November 2012

Israelisches Tagebuch 61 - Waffenstillstand

Liebe Freunde,

dies ist der letzte Eintrag für die nächste Zeit. In den Nachrichten steht, dass ab 21:00 jerusalemer Ortszeit eine Waffenruhe in Kraft treten wird.

Ein deutscher Freund schrieb mir vor ein Paar Tage eine verzweifelte Mail. Er schrieb von der Kraftlosigkeit der Worte. Vor der Sinnlosigkeit des ewigen Geredes um Israel, um Palästina. Es kann gut sein, dass er Recht hat. Meine Worte, diese an Euch seit Donnerstag gerichteten Worte haben – so habe ich vielen Reaktionen ablesen konnte – vielen das Gefühl gegeben, einen unmittelbaren Zugang zu den Menschen hinter den Worten zu haben.

Also, hier ist so ein Zugang –

Heute fing eigentlich fast normal an. Gili ging zum Kindergareten mit Ori, sie hatte ja "Kinder zum Schutzraum Schleppen" Dienst, was zum Glück nicht in Anspruch genommen werden musste. Ich fuhr zur Oper, wieder eine ermödende Wozzeck Probe. Da ich kaum was zu spielen habe, las ich die ganze Zeit die Nachrichten, die alle auf einen Waffenstillstand hindeuteten. Um Punkt zwölf hatten wir eine kurze Pause, ich kaufte mir eine Tasse Kaffee und ging raus, um die Sonnenstrahlen zu genießen.

Um 12:05 explodierte ein Bus 300 Meter von der Oper, auf der König Saul Allee.

Auf Einmal war die Welt wie ein Ameisennest, auf das man einen Stein geschmießen hat. Polizei, Rettungs- und Feuerwehrwagen, Syrenen, Rufe. Und das Wort, das man in dieser Stadt seit Jahren nicht mehr gehört hat. Attentat. Eine Polizistin fuhr an uns vorbei und rief uns zu – geht rein, wir haben den Terroristen noch nicht gefasst. Ich rief meinen Bruder an, der ja normalerweise – wenn er nicht gerade als Reservist in einem Loch im Süden Israels weilt – als Journalist arbeitet, um ihm von dem Attentat zu berichten. Es war ganz schön laut um ihn, Amit, rief ich – so heißt er -, hier ist gerade ein Bus explodiert. "Wir sind auf dem Weg nach Süden," sagte er. "Wie meinst Du das?" Fragte ich. "Wie soll ich es meinen?Nach Gaza. Also – Berlin oder Rom?".

Da konnte ich nicht mehr, meine Beine haben gezittert, die Welt drehte sich um mich. Mein Bruder auf dem weg nach Gaza, meine Tochter und meine schwangere Frau in der Reichweite von Raketen, und in der Nase der ätzende Rauch von dem brennenden Bus. Und das Gefühl der Ohnmacht, dass sogar der Boden, auf dem man steht, nicht mehr sicher ist.

Ich wollte heute gar nicht schreiben, ehrlich gesagt. Aber es ist gerade die Mail meines teueren Freundes, die mich dazu gezwungen hat. Weil Worte das einzige sind, was ich zur Zeit anbieten kann. Es kursierte rum um meine Einträge die Diskussion um die Frage der Schuld und der Verantwortung. Das Wort "Verantwortung" auf Hebräisch ist dem Wort "Haftung" identisch. Karl Jaspers schrieb – "Ein Volk haftet für seine Staatlichkeit". Ich vergleiche den Fall, auf den sich Jaspers bezog, nämlich Nazideutschland, nicht mit dem Fall  Israels im Jahre 2012. Jedoch bleibt dieser Satz immer richtig, für eine Diktatur, und erst recht für eine Demokratie. Auch wenn ich die jetztige Regierung nicht gewählt habe, trage ich eine Verantwortung für das, was in meinem Land geschieht, und für das, was mein Land anrichtet.

Und diese Worte sind zur Zeit meine stärkste, fähigste, und auch einzige Waffe. Diese Verbindung zu Euch. Dass sie auf verschiedene Seiten verbreitet werden, eine andere israelische Stimme verbreiten. Einen Zugang schaffen. Ich brauche diese Worte, weil ich mit dem Gefühl der Ohnmacht nicht leben kann.

Es ist jetzt schon 21:30. Das heißt –

Waffenstillstand.

Danke für Eure Worte, Danke für Eure Unterstützung, Danke für das Weiterleiten. 

Danke für den Zugang.

Seid alle lieb gegrüßt,

Bis zum nächsten Mal,

Euer Ofer




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