Samstag, 17. November 2012

Israelisches Tagebuch 57


Liebe Freunde,

Und was ist mit Gaza?

Seit drei Tagen berichte ich Euch über die vier Wände meiner Realität, und bekomme die wärmsten, schönsten Reaktionen. Es ist um uns auch ruhig geworden, seitdem wir im Norden sind – aus dem Fenster, aus dem ich schaue, sehe ich grüne Felder, Sonne, idyllische Dorflandschaft. Nur das Drohnen der Kampfjets ist ein Hinweis auf die andere Realität, die dort beginnt, wo die Reichweite der Kassam-, Silsal-, und iranischen Fager Raketen anfängt. Und, eben auch, wo das Ziel der Maschinen, die unweit von hier starten, liegt.

Die Frage, was im Gaza Streifen passiert, ist keine intelektuelle. Sie beeinflußt aufs Engste was in Israel passiert. Vorbei sind die Tage, an denen man auf den Straßen von Tel Aviv über Krieg und Frieden hätte disskutieren können wie auf den Straßen von Berlin, ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, ob die eigene Kindergärtnerin es schafft mit Ori und vier anderen Kindern in 90 Sekunden in den Schutzkeller zu gehen. An der Meinung – man nennt sie politisch – die man äußert, hängt jetzt ein wahres Preisschild.

Also – was ist mit Gaza? Gibt es einen Spalt in der doch immer so blinden Diskussion, zwischen "Israel übt Kriegsverbrechen aus" und "Die Araber sind alle gewalttätig und fanatisch"? Das weiss ich ehrlich gesagt nicht. Wie immer, werden diejenigen die die Weisheit dahinter bezweifeln, einen führenden Hamas-Aktivisten umzubringen, als Verräter gebrandmarkt. Dass der Mann ein, wie man auf Hebräisch sagt, Sohn des Todes war – daran besteht keinen Zweifel. Aber mit wem sollten wir denn sonst reden, gesetzten Falls, wir wollen überhaupt reden? Haben unsere Anführer nicht alle ihre Laufbahn beim Militär angefangen?

Aber andererseits fragt man sich auch – wieso, verdammt, schießen sie diese Raketen ununterbrochen nach Israel? Und zwar immer auf Zivilisten gezielt? Sie leiden unter keiner Besatzung, sie haben von Gaza aus eine offene Grenze nach Ägypten, den schönsten Strand am Mittelmeer, Geld von den Golfstaaten – wieso opfern sie alles auf um alle Paar Tage einige Raketen auf israelische Dörfer und Städte abzufeueren?

Anscheinend sind die Feigen, die Blinden, nicht nur auf unserer Seite an der Macht.

Zurück zu den vier Wänden. Wieder schau ich aus dem Fenster, ein einsames Militärfahrzeug fährt vorbei. Vielleicht ein Offizier, der noch etwas von zuhause nehmen will bevor er sich bei seiner Einheit meldet. Mein Bruder wurde eingezogen, sowie Gilis Bruder auch. Anscheinend brauchen sie keine Musiker, ich werde nicht einberufen. Sie riefen meinen Bruder gestern an, während des Schabbat-Abendessens. Er solle sich doch am nächsten Morgen persönlich an einem Sammelpunkt melden, seine Waffe abholen, und mit einem Transport nach Süden fahren.

Mein Bruder wird in einem Monat vierzig. Er hat zwei Kinder, und eine aus Italien stammende Frau, die gestern, als die Hamas Raketen auf Jerusalem feuerten, zum ersten Mal in ihrem Leben ein Luftalarm gehört hat.

Wir reisen jetzt zurück nach Tel Aviv, wir wollen nachhause. Ich werde heute Abend den Schutzraum etwas sauber machen und Proviant bereit stellen, für alle Fälle. Danach werde ich mit den anderen Eltern von Oris Kindergarten sprechen um eine Lösung zu finden, wie die Kindergärtnerin es schaffen kann, mit fünf Kindern in 90 Sekunden die vier Etagen die den Kindergarten vom  Schutzraum trennen herunterzurennen.

Liebe Grüße aus Israel,

Euer Ofer


3 Kommentare:

  1. keine Besatzung und schönster Strand am Mittelmeer war dann eine Nummer zu zynisch. danke, tschüß.

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    1. Herr Nowack,

      vielen Dank für Ihre Reaktion. Hier in Israel fehlt es sehr oft an die Möglichkeit zu diskutieren – und ohne diese Möglichkeit verfällt auch die letzte Hoffnung auf Freiheit, auf politische Freiheit.

      Zu Ihrer Reaktion – besetzt ist der Streifen nicht mehr. Er unterliegt schweren Restriktionen von der israelischen Seite, das stimmt. Aber, wie gesagt, kein israelischer Soldat hat seinen Fuß auf dem Streifen, und - er hat eine offene Grenze zu Sinai, nach Ägypten. Diese Tatsache wird manchmal zynisch von der israelischen Seite missbrauct – jedoch stimmt sie. Und was den Strand angeht –

      Waren Sie mal am Strand von Gaza, Herr Nowack? Wissen Sie, wie gold-schön er ist? Wissen Sie, wie sinnberauschend in Gaza das Geruch von den Apfelsinnen in der Luft schwebt, vor allem jetzt, am Anfang des Winters? Glauben Sie mir, ich weiß dass ich vor allem in den letzten Beiträgen leicht in Pathos gerutscht bin, wahrscheinlich hat die Kriegssyrene alle Ironie aus mir herausgepresst. Aber zynisch ist es wahrlich nicht.

      Uns allen eine ruhige Nacht,

      Ofer


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    2. Irgendwas an meiner Reaktion hat mir nicht gepasst, das gebe ich zu. Der Wille, schnell zu antworten, war anscheinend ein schlechter Ratgeber. Ich glaube nicht, dass bei den aufgeklärten Zeitgenossen in Europa solche orientalistischen Bilder wie Gerüche von Apfelsinnen gut ankommen, selbst wenn sie so stimmen. Jedoch weigere ich mich, auf etwas reduziert zu werden, oder zuzusehen, wie mein Gegenüber – der Gaza-palästinenser – auf etwas reduziert wird. Der Konflikt im Nahen Osten wird nicht gelöst dadurch, dass man ihn für eine ewige, innereuropäische Auseinandersetzung, ja für ein innerdeutsches Monolog missbraucht. Er wird auch nicht einfach, nur weil man ihn vereinfacht darstellt. Es ist schwer zu akzeptieren, dass die Machhaber in Gaza, für die man in den linken Lagern in Israel und Europa gekämpft hat, sich doch manchmal nicht als heldenhafte Freiheitskämpfer entpuppen. Genau so wie es für mich, Enkel von europäischen Juden, schwer zu akzeptieren sei, dass mein Land zu einer Besatzungmacht, die Menschenrechte aufs Tägliche verletzt, geworden ist. Aber nicht im Gaza-Streifen, Herr Nowack. Im Westjordanland, in Ost-Jerusalem, ja. Aber gerade das Beispiel Gaza macht es für das Friedenslager schwer, eine politische Mehrheit in Israel zu gewinnen.

      Sehen Sie, ich habe einen ganzen Absatz gebraucht, um diesen Standpunkt zu äußern. Es hilft uns hier nicht, wenn man unsere Lage undifferenziert beschreibt oder einfach nur betrachtet, mit einem einzigen, sei er noch so trefflichen, Satz.

      Morgen gibt es vielleicht eine Waffenruhe. Das hoffe ich doch sehr.

      Gute Nacht aus Tel Aviv,

      Ofer

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