Meine lieben Freunde,
ich bin von Euren zahlreichen
Reaktionen überwältigt. "Kommt doch zu uns", so lauten sie. Wie gerne
wäre ich jetzt mit Ori und Gili im Hochtaunus, in Nürnberg, Berlin, Brandenburg
oder Hamburg – weit weg von diesem Irrsinn.
Gestern Nacht, nachdem ich
Euch ein Paar Zeilen geschrieben habe, stand ich noch kurz am Fesnter. Das Haus
von Gilis Eltern liegt unweit von einem Stutzpunkt der israelischen Luftwaffe,
und alle Paar Minuten konnte man die drohnenden Motoren der Bomber hören, die
in ihrem Bauch, neben den klugen Bomben und schlauen Raketen, die Samen der
nächsten und übernächsten Gewaltrunde nach Gaza tragen.
Ein lieber israelischer und
deutsch lesender Freund war mit meinem Eintrag gestern nicht zufrieden. Er
schrieb – ich weiß nicht genau wieso, aber ich fand es unangenehmen diese Worte
zu lesen. Und dann fügte er hinzu – vielleicht weil sie auf Deutsch geschrieben
wurden.
Ich kann ihn gut verstehen. Zum
einen ist das Fliehen nach einer einzigen Begegnung mit dem Luftalarm oder mit
der darauf folgenden Explosion ziemlich feige, und ich schreibe es ganz und gar
ironiefrei. Was die Menschen im Süden Israels durchmachen ohne zu fliehen – das
ist wahrer Mut. Und die in Gaza können ja gar nicht fliehen. Zum Zweiten – das Wort
Flucht hat auf Deutsch einen starken Beigeschmack. Es ist sowohl schwierig,
weil man dem Ausland – also Euch – nicht zeigen will, wie lose unser Griff in
diesem Boden ist. Und – wie soll ich es schreiben – dieser Freund gehört einer
Generation an, die sich das Fliehen abgeschworen hat. Man ist genug auf Deutsch
geflohen, jetzt will man auf Hebräisch seßhaft werden.
Und doch. Und doch, dieses
Gefühl – mit Socken, Ori auf dem Arm, die Treppen runter, schnell, schnell, im
Kopf der Gedanke – das kann doch gar nicht wahr sein, was mache ich da, es
handelt sich sicherlich um einen Irrtum. Aber die Hände halten fest, der süße Kindesatem
ist in der Nase, und die Beine wissen – 90 Sekunden. So viel Zeit hat man
zwischen dem Luftalarm und dem Raketeneinschlag.
90 Sekunden. Los. Wo seid Ihr
gerade? Wo lest Ihr diesen Text? Über dem Savigny Platz in Berlin? Wie lang
braucht man um zu begreifen, aufzustehen, das Kind nehmen, runterrennen? Seid
Ihr in den Stimmzimmern in Nürnberg – da ist man sicher – aber wo ist die
Familie gerade? Seid Ihr am Spielplatz in Prenzlauer Berg – schaut um Euch
herum, was ist 90 Sekunden weit weg von Euch?
Also sind wir weg gefahren,
wie andere auch. Gestern, als ich den Koffer in das Auto steckte, sah ich zwei
alte Nachbarn, gebrächlich, leise, wie sie mit einer kleinen Tasche zum Auto
laufen. Ich schaute sie kurz an, wie still und gekrümmt sie an uns
vorbeigingen. Man wollte sich nicht direkt anschauen, man mied den direkten
Blickkontakt. Ehrenhaftigkeit sieht anderes aus, aber die alten Finger der
Frau, die in einem Wintermantel ihre Damentasche festhielten, ja ihr ganzes
Wesen war um dieses Damentasche gekrümmt, war das Menschlichste was es gibt.
Aus dem Nebenzimmer höre ich –
eine Rakete ist in Tel Aviv eingeschlagen. Gili steht an der Tür – wir bleiben
hier. Mal schauen, ich habe ja eine Wozzeck Probe am Sonntag. Ich mag diese
Musik nicht, und doch will ich eher an die Probe denken. Ich will nicht wieder
an den süßen Kindesatem in meiner Nase im Treppenhaus gestern denken.
Es ist meine Therapie, Euch
diese Worte schreiben zu können. Ich weiß um Eure Teilnahme. Ich weiß dass F. Seinen
neugeborenen Sohn jetzt in Berlin festhält und an uns denkt. Ich weiß dass B. In
Brandenburg das Gästezimmer freigemacht hat, so wie M. In Berlin oder im
Hochtaunus und viele andere auch. Ihr macht mich stark. Und ich bin Euch für
das Recht, dies an Euch schreiben zu dürfen sehr dankbar.
Wenn das vorbei ist, werde
ich mich hinsetzen und mir überlegen was zu tun ist. Das Recht, nichts zu tun,
ist mir in dem Moment aberkannt worden, in dem Gili, erschöpft, mir ihre Hand
gab und eingeschlafen ist. Man kann ja nicht immer fliehen.
Ich habe gestern geschrieben –
betet für den Frieden, hier und in Gaza. Ich glaube, es wird mehr als nur beten
nötig sein um die Regenschaft der Dummen in unserer Welt abzubrechen.
Seid alle lieb gegrüßt und
umarmt,
Euer Ofer
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