Liebe Freundinnen, liebe Freunde,
Meine erste Begegnung mit der Seuche war in „Narziß und Goldmund“ von Herman Hesse. Wir waren auf Familienurlaub, ich hatte keinen Lesestoff dabei, und meine Schwester hat das Buch gerade zu Ende gelesen und mir auf den Nachttisch gestellt. Ich war 12, wohlbemerkt, etwas jung für Goldmunds Liebespfad durch die Dörfer Mitteldeutschlands. Von allen dort ausgeschilderten Aufregungen, beeindruckte mich am meisten die junge Jüdin Rebekka. Nicht nur verweigerte sie als einzige Goldmund ihre Liebe (und mir eine weitere, schlaflose Nacht); sie war mit einer anderen Verführung behaftet, jener des Todes. Goldmund trifft auf sie vor einem Ort, dessen „Obrigkeit“ aufgrund des schwarzen Todes 14 Juden auf den Scheiterhaufen stellte und sie „zu Asche verbrannt“ hat. Die Figur Rebekkas, die Liebesverweigerin, „das schöne schwarze Mädchen“ mit dem stolzen, „königlichen Gesicht“ war also auch meine erste Begegnung mit der Art und Weise, wie deutsche Humanisten wie Hesse Juden betrachten und beschreiben, allerdings noch vor dem Krieg und deshalb noch etwas ungezwungener. Goldmund versucht auf Rebekka einzureden, sie sollte mit ihm fortgehen, Rebekka bleibt aber, in einer – vor allem für meine Glaubensgenossen und Genössinen - für diese Situation eigentlich eher untypischen Reaktion. Bei Rebekka war es Wut und der Wille, am noch glühenden Aschehaufen ihrer Familie auszuharren, der sie am Ort festhielt. Bei mir ist es an diesen Tagen der Shutdown, der der eigentlich fast eingeprägten Reaktion des Fortgehens entgegensteht.
Vor einigen Jahren kam meine Klavierlehrerin aus meiner Berliner Zeit als Musikstudent nach Israel zu Besuch. Sie ist eine alte polnische Jüdin, die einen wunderschönen deutschen Nachnamen hat, den ich hier aus Gründen des Persönlichkeitsrechts paraphrasieren möchte: Frau Mondschein. Dass eine polnische Jüdin einen wunderschönen deutschen Nachnamen wie Mondschein trägt hat übrigens ebenfalls mit der Seuche zu tun. Der alte polnische König im 14. Jahrhundert, Kasimir der Große, bemerkte nämlich, dass Juden weniger an dem schwarzen Tod sterben als an der Unfähigkeit ihrer christlichen Nachbarn, mit der dabei entstehenden Frust umzugehen. Dies erinnert in freier Assoziation natürlich an Heinrich Heines Gedicht, „An Edom“, in dem er an die Adresse der europäischen Christen die folgenden Zeilen schickt:
Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, daß ich atme,
Daß du rasest, dulde Ich.
Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,
Ward dir wunderlich zu Mut,
Und die liebefrommen Tätzchen
Färbtest du mit meinem Blut!
(…)
Kasimir der Große holte jedenfalls die Juden ins polnische Königreich, wo sie lebten und nach Möglichkeit gar gediehen, bis ihre einstigen deutschen Nachbarn wieder zu Besuch kamen.
Die Zeiten ändern sich aber, und Frau Mondschein, die jüdisch-polnische Klavierlehrerin, lebte nun in Berlin, unterrichtete Klavier, und veranstaltete Hauskonzerte, in denen Sprudelwasser und Tee serviert wurden. Ich war als Hornist gezwungen, bis zum Vordiplom ein Harmonieinstrument zu lernen, und da ich weder eine Orgel noch ein Akkordeon besaß, entschied ich mich für Klavier, womit ich in die Klasse Frau Mondscheins landete. Letztere hat mich indes bei jenen Hauskonzerten immer sowohl liebevoll als auch etwas besorgt durch ihre Wohnung begleitet, als ob fürchtete sie, ich könnte ihr Porzellan zerschlagen. Ob das daran liegt, dass ich ein grober Blechbläser bin, oder eher, dass ich aus Israel komme, oder dass diese beiden Adjektive sich quasi gegenseitig potenzieren, kann ich nicht sagen.
Eines Tages jedenfalls, da wohnte ich wieder in Israel, bekam ich eine Mail von ihr. Eine Kindheitsfreundin von ihr wohne in Tel Aviv, schrieb Frau Mondschein, und sie habe es vor, sie bald zu besuchen. Ob wir uns ebenfalls treffen wollen? Ich war natürlich hoch erfreut über die Gelegenheit, ihr zu zeigen, dass ein israelischer Blechbläser in Berlin vielleicht als Sinnbild der Grobheit gelten mag, aber dass ein in Berlin ausgebildeter Hornist in Israel als exquisite, ja fast zerbrechliche Pflanze betrachtet wird. Wir verabredeten uns für Shabat, also den Samstag, in einem Tel Aviver Strandcafé.
Als ich dort antraf saß Frau Mondschein bereits mit ihrer Freundin an einem der Plastiktische. Sie hatten offensichtlich schon einige Strandcafés besucht, und in jedem ein klein wenig getrunken, denn sie kicherten fortdauernd und führten mit etwas schwer gewordener Zunge, mich vollkommen missachtend, ihre Unterhaltung auf Polnisch fort. Als ich endlich der Freundin vorgestellt wurde, sind die Gesichtszüge Frau Mondscheins plötzlich etwas ernster geworden. Sie schaute mich mit leicht glasigen Augen an, legte ihre knöchrige Pianistinhand auf meine Blecherbläserpfote, und sagte in einer Mischung aus Jiddisch und Deutsch – „Jingele, a Jid muss seinen Kindern zwei Sachen geben: Pässe und Sprachen. Alles andere regelt sich von allein.“
Nun sitze ich hier, und möchte der Frau Mondschein sagen – ich habe mir Mühe gegeben und den Kindern Pässe und Sprachen verschafft, doch was bringen sie uns jetzt, wo ist ein Kasimir der uns jetzt hier wegholt, und sowieso, in Polen gibt es ebenfalls Corona, oder?
Euer
Ofer