Samstag, 19. Januar 2013

Israelisches Tagebuch 64


Liebe Freunde,

Donnerstagmorgen, fünf Tage vor dem Wahltag, bin ich leicht erkältet aufgewacht neben meiner sich im tiefsten Schlaf befindlichen Tochter. Klar, dachte ich, sie hat noch sechzehn Jahre bevor sie wählen muss, an ihrer Stelle hätte ich auch einen ruhigen Schlaf. Es ist wirklich nicht einfach zu erklären wie Ernst man die Wahlen hier in Israel sieht – oder, ehrlich gesagt, jede Wahlen. Auch die in 2009, oder 2006, oder 1977, oder 1949. Und täglich grüßt das Murmeltier, nur dass es bei uns immer der 9 November ist. Ob Ihr Merkel oder Steinbrück wählt, Rösle- oops – Brüde- oops – Lindner, Trittin oder Gysi – Ihr wisst dass Eure Demokratie weiter bestehen wird. Klar darf man sich nicht auf die Lorbeeren ausruhen, jedoch ist die größte Gefahr für das Projekt "Demokratisches Deutschland" eher die Langeweile (was nicht immer ungefährlich ist). Bei uns sind es ca. 50 Prozent der Parteien, bei denen bei der Wahl zwischen Gott, Boden, jüdischem Staat, Jerusalem, Schlag auf Iran und koscheren McDonalds Restaurants die Demokratie nicht mal über die bei uns herrschende zwei-Prozent Hürde kommen würde.

Ich bin abgelenkt, eigentlich wollte ich vom Donnerstagmorgen berichten. Ich musste früh raus da ich auf eine Beschneidung in Jerusalem eingeladen war. Im Auto hörte ich Wahlsendungen der verschiedenen Parteien, "starker Führer für ein starkes Israel", "Wir sind die echten Kämpfer – bei uns sind unter den ersten zehn Listenplätzen 9 Kampfsoldaten" und so weiter – habe ich schon 9 November gesagt? – und ein wenig Musik, bis ich das Haus in der Pionierstraße erreicht habe. Bei der Beschneidung handelte es sich um den Sohn eines engen Freundespaares. Die Frau ist mit mir zur Schule gegangen, sie saß blass auf einem Stuhl und kämpfte gegen den Drang hin- und wegzuschauen. Der Mann ist ein ehemaliger religiöser Siedler, er kehrte Gott seinen Rücken zu und führt ein säkulares Leben, jedoch seine gesamte Familie kommt aus Siedlungen im Westjordanland, und so standen um das betäubte Baby Kreise von bärtigen Männern in weißen Hemden, Gebete murmelnd, während der Mohel seine Arbeit verrichtete. Beschneidung ist ein furchtbares Wort. Bei uns heißt es Brit – Allianz, oder Bund. Die Brit ist ein Symbol für die Allianz zwischen Gott und den Juden, angefangen mit Abraham im alten Testament durch eine Kette abgeschnippelter Verfolgter, bis zu der murmelnden vibrierenden Runde am letzten Donnerstag um den Sohn meiner Freunde. Erst nachdem die Vorhaut entfernt wurde – ich habe nicht hingeschaut, ich bin eine Memme – darf man den Namen des Kindes laut rufen. "Amos," rief der Mohel, "Willkommen im Volke Israels." Alle im Saal nickten zustimmend, Amos ist der Name des Propheten der als einfacher Hirte für soziale Gerechtigkeit plädierte, eine Art jüdischer Sozialist.

Es ist schon erstaunlich, dachte ich mir während ich, Mazal Tov sagend, Menschen küsste und umarmte die in fünf Tagen Parteien wählen werden die ich als faschistisch bezeichne. Es sind Menschen, mit denen ich normalerweise schreiend auf Demonstrationen kommuniziere, und hier stehen wir mit Kaffee und Kuchen und plaudern höflich über das Wetter, der linke Verräter mit dem Apartheidbefürworter.

So ist das immer bei Juden, oder eigentlich vielleicht bei allen Menschen. Die gemeinsam erlittenen Verletzungen, die Jahrtausende Verfolgung durch Rabbi-Scheren, vor allem wenn die vor unsere Augen geführt wird, rückt uns näher zusammen. Es sind die Verletzungen anderer – auch wenn es sich hier ebenfalls um "Blut-Allianz" handelt – bei denen unsere Geister sich scheiden.

Ich wünsche Euch allen ein friedliches Wochenende,

Euer Ofer

p.s. es würde mich freuen, wie immer, wenn Ihr diese Worte – falls sie Euch gefallen haben - weiterverbreiten werdet.


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