Liebe Freunde,
Donnerstagmorgen, fünf Tage
vor dem Wahltag, bin ich leicht erkältet aufgewacht neben meiner sich im
tiefsten Schlaf befindlichen Tochter. Klar, dachte ich, sie hat noch sechzehn
Jahre bevor sie wählen muss, an ihrer Stelle hätte ich auch einen ruhigen
Schlaf. Es ist wirklich nicht einfach zu erklären wie Ernst man die Wahlen hier
in Israel sieht – oder, ehrlich gesagt, jede Wahlen. Auch die in 2009, oder
2006, oder 1977, oder 1949. Und täglich grüßt das Murmeltier, nur dass es bei
uns immer der 9 November ist. Ob Ihr Merkel oder Steinbrück wählt, Rösle- oops –
Brüde- oops – Lindner, Trittin oder Gysi – Ihr wisst dass Eure Demokratie
weiter bestehen wird. Klar darf man sich nicht auf die Lorbeeren ausruhen,
jedoch ist die größte Gefahr für das Projekt "Demokratisches
Deutschland" eher die Langeweile (was nicht immer ungefährlich ist). Bei
uns sind es ca. 50 Prozent der Parteien, bei denen bei der Wahl zwischen Gott,
Boden, jüdischem Staat, Jerusalem, Schlag auf Iran und koscheren McDonalds
Restaurants die Demokratie nicht mal über die bei uns herrschende zwei-Prozent Hürde kommen würde.
Ich bin abgelenkt, eigentlich
wollte ich vom Donnerstagmorgen berichten. Ich musste früh raus da ich auf eine
Beschneidung in Jerusalem eingeladen war. Im Auto hörte ich Wahlsendungen der
verschiedenen Parteien, "starker Führer für ein starkes Israel",
"Wir sind die echten Kämpfer – bei uns sind unter den ersten zehn
Listenplätzen 9 Kampfsoldaten" und so weiter – habe ich schon 9 November
gesagt? – und ein wenig Musik, bis ich das Haus in der Pionierstraße erreicht
habe. Bei der Beschneidung handelte es sich um den Sohn eines engen
Freundespaares. Die Frau ist mit mir zur Schule gegangen, sie saß blass auf
einem Stuhl und kämpfte gegen den Drang hin- und wegzuschauen. Der Mann ist ein
ehemaliger religiöser Siedler, er kehrte Gott seinen Rücken zu und führt ein
säkulares Leben, jedoch seine gesamte Familie kommt aus Siedlungen im
Westjordanland, und so standen um das betäubte Baby Kreise von bärtigen Männern
in weißen Hemden, Gebete murmelnd, während der Mohel seine Arbeit verrichtete.
Beschneidung ist ein furchtbares Wort. Bei uns heißt es Brit – Allianz, oder
Bund. Die Brit ist ein Symbol für die Allianz zwischen Gott und den Juden, angefangen
mit Abraham im alten Testament durch eine Kette abgeschnippelter Verfolgter, bis zu der
murmelnden vibrierenden Runde am letzten Donnerstag um den Sohn meiner Freunde.
Erst nachdem die Vorhaut entfernt wurde – ich habe nicht hingeschaut, ich bin
eine Memme – darf man den Namen des Kindes laut rufen. "Amos," rief
der Mohel, "Willkommen im Volke Israels." Alle im Saal nickten
zustimmend, Amos ist der Name des Propheten der als einfacher Hirte für soziale
Gerechtigkeit plädierte, eine Art jüdischer Sozialist.
Es ist schon erstaunlich,
dachte ich mir während ich, Mazal Tov sagend, Menschen küsste und umarmte die
in fünf Tagen Parteien wählen werden die ich als faschistisch bezeichne. Es
sind Menschen, mit denen ich normalerweise schreiend auf Demonstrationen
kommuniziere, und hier stehen wir mit Kaffee und Kuchen und plaudern höflich
über das Wetter, der linke Verräter mit dem Apartheidbefürworter.
So ist das immer bei Juden,
oder eigentlich vielleicht bei allen Menschen. Die gemeinsam erlittenen
Verletzungen, die Jahrtausende Verfolgung durch Rabbi-Scheren, vor allem wenn
die vor unsere Augen geführt wird, rückt uns näher zusammen. Es sind die
Verletzungen anderer – auch wenn es sich hier ebenfalls um
"Blut-Allianz" handelt – bei denen unsere Geister sich scheiden.
Ich wünsche Euch allen ein
friedliches Wochenende,
Euer Ofer
p.s. es würde mich freuen,
wie immer, wenn Ihr diese Worte – falls sie Euch gefallen haben - weiterverbreiten
werdet.
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