Im vierten Stock des "Tacheles" Kunstzentrums in Berlin sitze ich einem jungen Mahler gegenüber. Die Luft ist kühl, man könnte sogar sagen – die Luft ist kalt, ich schaue über dem Kopf des in seiner Kunst versinkenden Mahlers und blicke durch das schmutzige Fenster hinaus. Draußen ist Berlin, grau und unfreundlich, ich sehe nur die Dachrillen des Hauses gegenüber, dunkle, verschwommene Flecken die ich als Raben interpretiere werfen unklare Schatten auf die beschlagene Fensterscheibe.
Der Mahler hebt seinen Kopf, schaut mich mit einem eindringlichen Blick an, und sagt ein kleines, vom russischen Akzent umgebendes "So".
Er dreht das Blatt um, ein schwermutiger Mann blickt mir entgegen, mit roten und schwarzen Farben, und ich erinnere mich daran dass Malerei die wahrhaftigere Kunst ist, zumindest wenn sie mit der Fotographie verglichen wird, sowie die "Klio" von Picasso, die Muse der Geschichte, die in den Spiegel blickend die dunklen Ströme ihrer inneren Gefühlswelt sieht.
Der ernsthafte Blick meines eigenen Bildes begleitet mich den ganzen Tag, die tiefen roten Falten in der Stirn und der schwarze, von dem Mahler erahnte Schatten zwischen Unterlippe und Kinn. Ich bin erkältet und Berlin ist diesmal nicht sehr freundlich zu mir, ich suche nach Büchern für die Uni und werde nicht mal bei Dussmann fündig, "Sie können sie bestellen, aber wir liefern nicht nach Israel," sagt die junge, schwarz gekleidete Dame beim Infoschalter, und ich erahne die auf mich zukommende, nie ausgesprochene und dafür umso heftigere Enttäuschung meiner Doktormutter. Statt Freunde zu sehen muss ich mich im Bett verkriechen und den Schneeflocken zusehen, und wenn mein Fieber sich endlich leicht senkt befinde ich mich wieder auf dem Weg gen Süden, nach Nürnberg.
Lieber Georg aus Tel Aviv verzieht sein Gesicht und spuckt den Namen "Nürnberg" aus als ob allein das Aussprechen dieses Wortes mit heftigen Schmerzen verbunden ist. "Aber wieso ausgerechnet Nürnberg", fragt er, und seine Stimme zerbricht in einer Mischung aus Entsetzen und Flehen. Wieso Nürnberg?
Nun, ich habe im Laufe dieses Tagebuchs schon Einmal ein Lobeslied zu Ehren der fränkischen Hauptstadt geschrieben, also bitte ich hiermit um Verzeihung dass ich es nicht erneut mache. In allen Städten, in denen ich gelebt habe, habe ich versucht ein in den Steinen festgeschriebenes Geheimnis zu entdecken, eine Urwahrheit, ob in Jerusalem, Berlin oder New York. Wer aber ständig nach versteinerten Botschaften schaut, der übersieht die Menschen, überhört sie, und verdonnert sich selber zu einer Isolierung die zwar poetisch wunderschön zu beschreiben ist, gleichzeitig aber eine nicht poetische Einsamkeit erzeugt.
Und Nürnberg?
In Nürnberg suche ich nicht nach Steinen. Ich will gar nicht wissen welche Stimmen sich in den Sandsteinen der Altstadt verfangen sind, ich bin nicht nach Nürnberg gezogen, die Menschen missachtend, um die gebrochenen Überreste von Fragen und Antworten die ich aus Israel mitgenommen habe wieder in Ordnung zu bringen. Diese Stadt, gerade eben weil sie für mich vom Anfang an keinerlei Bedeutung hatte, war der erste Ort wo ich, von meinen blöden Überinterpretationen des "so soll ein Mensch sein" Bildes entkleidet, einfach SEIN konnte. Und auf dieser Ebene habe ich Menschen entdeckt, Freundschaften, die fürs Leben sind. Ich bin immer überrascht wenn ich nach Nürnberg fliege, mit welcher Wärme ich von meinem (ich darf doch so schreiben, oder?) Orchester, den Nürnberger Philharmonikern, empfangen werde, obwohl sie und ich wissen dass es genügend (und bessere) Hornisten in Deutschland leben die bei denen liebend gerne spielen würden. Und doch werde ich von allen Kollegen umarmt, vom GMD bis zu den Orchesterbüroangestellten, von der Horngruppe (samt Familien) ganz zu schweigen. Und wenn ich nach einer Probe in meine alte WG fahre, so ist es als ob die Zeit stillsteht, die Tür geht auf und aus der Küche riecht man das feine Kochen des adligsten Kochs Deutschlands, und ich werde von meinen einstigen Mitbewohnern umarmt, wie eine Familie, wie ein Hafen.
Deswegen Nürnberg.
Neun Tage war ich also in Deutschland, eine Woche davon saß ich zitternd unter einer Decke. Gestern stopfte ich die ganzen Pullis zurück in meinen Koffer, zusammen mit Unmengen von Lebkuchen, und bin zurück nachhause, zu Gili und Ori geflogen.
Und jetzt ist es Freitagabend, gleich fahren wir nach Jerusalem um die Schabbat im Kreise meiner Familie zu empfangen, Gili ist mit einer Freundin Kaffe trinken gegangen, und ich schreibe Euch mit einer Hand, da die andere den Kopf meiner schlafenden Tochter Ori stützt. Sie schaut mich mit großen, grauen Augen an, ihr rebellisches Haar umgibt ihren Kopf wie ein Heiligenschein, und ihre kleinen Hände rudern durch die Luft. Ich sage ihr, ich habe sie vermisst. Es war nicht die Sehnsucht die ich aus anderen Zeiten kannte, als Gili und ich tausende Kilometern voneinander getrennt waren, jene süße, aufregende Sehnsucht, die man immer wieder spürt und doch ist sie immer wieder wie zum ersten Mal da, überraschend und süßschmerzlich. Nein, dieses Mal tat mir meine Seele Weh, so weit weg von Ori zu sein, von diesen kleinen Händen und fragendem Blick. Ich habe sie gestern den ganzen Abend umarmt und ihr ihr Lieblingslied gesungen, "ich weiß nicht, zu wem ich gehöre" von Marlene Dietrich, aber tief im Herzen sagte ich mir – ich weiß ganz gewiss, zu wem ich gehöre.
Seid Alle lieb aus Tel Aviv gegrüßt,
Euer Ofer
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Lieber Ofer,
AntwortenLöschenschon bist du wieder in Israel in den Armen deiner geliebten Familie und hast auch schon wieder nach deinem Aufenthalt in Nürnberg und Berlin ein Tagebuch geschrieben. Was für wunderbare Worte, so herzzerreissend schön, wie du deine Gefühle und Gedanken so direkt und ehrlich niederschreibst. Wieso gibt es immer diese Klischees, diese festen Vorstellungen und Bilder, die immer wieder hervorgeholt werden müssen. Ja, es gibt eine Geschichte, „Steine" und Erinnerungen der Menschen als Zeugnis einer dunklen deutschen Vergangenheit, gerade in Nürnberg. Aber vielleicht ist man gerade hier in dieser Stadt so bemüht und dafür sensibilisiert, dass sich das nie mehr wiederholt. Aber eigentlich ist es egal in welcher Stadt man lebt. Entscheidend ist der Umgang miteinander. Du bist das beste Beispiel dafür, dass diese Klischees für dich keine Rolle spielen. Du bist unvoreingenommen, ohne Vorurteile in diese Stadt und zu den Philharmonikern gekommen und hast somit erlebt, dass es hier wie überall die gleichen Menschen mit all ihren Facetten gibt. Du bist ihnen herzlich und offen begegnet und das kam dann auch zu dir zuück (auch wenn es bei den Franken etwas dauert. Wenn dann eine Freundschaft entsteht, dann ist es ganz sicher und ehrlich). Aber ich will nicht schon wieder ein Klischee manifestieren. Die Menschen sind sehr verschieden und sehr individuell. Es gibt nicht die „Jerusalemer" oder den „Nürnberger". Ich wünsche mir, dass in Zukunft immer mehr „Steine" der Mauern in den Köpfen abbröckeln und sich, egal wo, ohne Vorurteile begegnen.
Ich hoffe, dass du wieder gesund bist.
Grüße an Gili und ein Kuss für Ori,
Kerstin
Unser Büro ist neben Dussman und ich fahre oft nach Israel bzw. kann hier Bücher lagern. Kann gerne etwas abholen etc.
AntwortenLöschenMichael Leiserowitz www.flyisrael.de